Im Mahâyâna-Buddhismus wird davon gesprochen, daß es 84000
Tore zum Dharma, zur Wirklichkeit, zum Erwachen gäbe -
vielleicht denken wir dabei zunächst einmal an die formalen
buddhistischen Meditations- und Achtsamkeits-Übungen, doch auch
ganz gewohnte Dinge können uns zum Tor des Erwachens
werden, wenn wir ungeteilte Achtsamkeit für den Augenblick entwickeln:
vielleicht das Antlitz eines geliebten Menschen, das Rauschen eines Bergbaches,
der Duft eines Kiefernwaldes, der Geschmack frischen Wassers, die Empfindung
einer sanften Berührung, vielleicht auch die Worte eines Dichters, die
Gedanken eines Philosophen oder die Einsichten eines Wissenschaftlers.
Bei all diesen Dharmatoren geht es nicht um 'absolute' Wahrheiten,
sondern um ihr Potential, unseren Herz-Geist zu berühren, so daß
wir die Wirklichkeit erkennen können und aufwachen aus dem Schlaf unserer
Illusionen.
Eines dieser 84000 traditionellen Dharmatore ist die philosophische
Annäherung an die Wirklichkeit - was nun natürlich nicht bedeutet,
daß alle Schüler und Schülerinnen des
Mâhâyana-Buddhismus unbedingt eine große Hinneigung zum
philosophischen Denken entwickeln müßten - aber es ist für
Menschen mit intellektuellen Begabungen durchaus interessant und
'erleuchtend', das Denken bis an seine Grenzen zu denken
und dann schließlich angesichts der unauflöslichen
Widersprüchlichkeiten von Sprache und Denken 'jenseits zu
gehen' in den Frieden des Schweigens, jenen tiefen Frieden
aller Buddhas.
Vielleicht fühlen wir westlichen Leser uns bei
solchen Gedanken an Wittgenstein erinnert, aber bereits der
indische buddhistische Mönch und Philosoph Nâgârjuna
(ca.150-250) hat sich darum bemüht, das konsequente philosophische Fragen
und Denken als einen Weg der inneren Befreiung zu etablieren und hat
so die für den Mâhâyana-Buddhismus bis heute bedeutsame
Philosophie des Mâdhyamaka (des 'Mittleren Weges')
entwickelt.
Eine kleine Einführung
zu dieser und anderen buddhistischen philosophischen Schulen findet
sich in:
Kleine Übersicht über Philosophie und Praxis
einiger buddhistischer Schulen.
Ebenfalls als Einführung in die Gedankenwelt des Mâhâyana-Buddhismus
eignen sich, gerade im Zusammenhang mit Nâgârjuna, dessen:
Zwanzig Verse über das Mâhâyana, das
Mahâyânavimsakâ.
Für umfassendere Darstellungen der Philosophie des
Mâhâyana-Buddhismus, und speziell des Mâdhyamaka, seien
interessierte Leser und Leserinnen aus der Flut der einschlägigen
Veröffentlichungen auf die im Anhang aufgeführten und rein subjektiv
ausgewählten Werke hingewiesen.
Nach der Erfahrung des Autors tauchen jedoch in vielen Gesprächen
über Nâgârjuna und dessen Mâdhyamaka-Philosophie
regelmäßig zwei schwierigere Fragen auf:
-
das Problem des Absoluten im Mâdhyamaka,
-
das Problem mit der antiken indischen Logik und den aus
heutiger wissenschaftlicher Sicht häufig unkorrekten
logischen Schlüssen Nâgârjunas.
Dies führt nun direkt zu der grundsätzlicheren Frage:
-
Inwiefern haben diese 1800 Jahre alten indisch
philosophischen Debatten noch irgendeinen Sinn für uns Menschen der
westlichen Kultur des 21. Jahrhunderts?
Die Frage 1 wird sehr schön behandelt in dem hier in deutscher
Übersetzung vorgelegten Aufsatz des belgischen Indologen J. W. de Jong:
Jan W. de Jong: Das Problem des Absoluten in der
Schule des Mâdhyamaka.
Die Frage 2 wird sehr detailliert und kundig behandelt in dem
englischen Aufsatz von R. R. Robinson (wenn Zeit und Umstände dies erlauben,
soll irgendwann einmal hier eine deutsche Übertragung von Robinson´s
Text angeboten werden):
Richard R. Robinson: Some Logical Aspects of Nâgârjuna's System.
Aus der Vielfalt der möglichen Antworten auf die Frage 3 sollen
an dieser Stelle nur einige Zitate moderner Autoren zu Nâgârjuna
zitiert werden:
Einige moderne Stimmen zu Nâgârjuna.
Und damit sind dann hoffentlich alle Fragen beantwortet ;-)
und wenn nicht?
Nun, vielleicht sollten wir uns doch zur Meditation hinsetzen!
M.B.S., Ulm, Oktober 2002.
Literaturangabe
-
B. Weber-Brosamer, D. M. Back, Die Philosophie der Leere,
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden, 1997.
-
E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus,
Akademie Verlag, Berlin, 1994.
-
Thich Nhat Hanh, Schlüssel zum Zen,
Herder Verlag, Freiburg i.Br., 1996.
-
K. Jaspers, Die großen Philosophen,
Abschnitt: Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker,
Kapitel: Nagarjuna,
Piper & Co.Verlag, München, 1957.
-
H. W. Schumann, Mahayana-Buddhismus,
Diederichs Verlag, München, 1990.
-
Alan W. Watts, Zen, Tradition und lebendiger Weg,
ZERO Verlag, Rheinberg, 1981
(bzw. Windpferd Verlag, Aitrang, 1990).
-
V. Zotz, Geschichte der buddhistischen Philosophie,
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1996.
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