Mahâyânavimsakâ von Nâgârjuna
 

Deutsche Übertragung der
englischen Übersetzung und Rekonstruktion
 
von

Vidhusekhara Bhattacharya

Diese kleine Arbeit verfolgt keine wissenschaftlichen Absichten, sondern möchte deutschsprachigen Praktizierenden des Mahayana Buddhismus eine einfache, aber doch weitgehend stimmige Übertragung dieses bekannten Textes von Nâgârjuna als eine Inspiration für die Meditation über Leerheit und bedingtes Entstehen anbieten.

Der englische Text von Vidhusekhara Bhattacharya findet sich sowohl hier im Anhang, als auch unter:
http://www.dabase.org/vimsaka.htm .

Eine von Giuseppe Tucci neu entdeckte und übersetzte Sanskrit-Version des Mahâyânavimsakâ, veröffentlicht in:
Minor Buddhist Texts, vol. 1, sec. 2, p. 193-207, Rom, 1956,
sowie eine neuere Tibetisch-Englisch Übersetzung durch Anagarika Kunzang Tenzin (1973):
http://www.keithdowman.net/mahamudra/nagarjuna.htm) ,
die sich beide von dem hier verwendeten englischen Text von Bhattacharya gelegentlich unterscheiden, wurden ergänzend bei dieser deutschen Übertragung herangezogen.

Zu den verschiedenen erhaltenen Quellen des Mahâyânavimsakâ, zur kritischen Textanalyse und Rekonstruktion von Bhattacharya und zur hier vorgelegten Übertragung ins Deutsche finden sich im Anhang einige Worte. Ein herzlicher Dank für das Besorgen einiger Original-Texte geht an meinen Dharmafreund Johannes Tümmers.

Für eine vertiefende Beschäftigung mit dem Mahâyânavimsakâ kann auf die folgende moderne, ausführliche Darstellung verwiesen werden:
R.C. Jamieson: A study of Nagarjuna's Twenty verses on the Great Vehicle (Mahayanavimsika) and his verses on the heart of dependent origination (Pratityasamutpadahrdayakarika) with the interpretation of the heart of dependent origination (Pratityasamutpadahrdayavyakhyana),
Peter Lang Publishing, New York, 1997.

©opyright der Englisch Übersetzung:
1931, Vidhusekhara Bhattacharya & Visvabharati Bookshop, Calcutta.

©opyright der Englisch-Deutsch Übertragung
2005-2007, M.B. Schiekel (mb.schiekel_at_arcor.de), D-89073 Ulm.

Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des deutschen Übersetzers.
 
                                                       Ulm, März 2005, M.B.S.

 

Mahâyânavimsakâ von Nâgârjuna
 

VEREHRUNG DEN DREI KOSTBARKEITEN

  1. Ich bringe dem Buddha meine Ehrerbietung dar,
    ihm, dessen Geist frei ist von aller Anhaftung,
    ihm, dessen Wirken über jede Vorstellung hinausgeht,
    ihm, der voller Güte die unaussprechliche Wahrheit gelehrt hat.

  2. In der transzendenten Wahrheit
    gibt es weder Entstehen (utpada) noch Vergehen (nirodha).
    Der Buddha ist wie der Himmelsraum,
    und alle Lebewesen haben diese gleiche Natur.

  3. Geburt gibt es weder auf dieser noch auf jener Seite (der Welt).
    Alle Gestaltungen (samskrta) entstehen aus Bedingungen
    und sind also ihrer Natur nach leer (sunya).
    Dies ist die Einsicht eines Alles-Wissenden.

  4. Alle Dinge erscheinen im Grunde
    als eine Spiegelung.
    Sie sind rein und natürlich still,
    nichtdual und immer Soheit (tathata).

  5. Gewöhnliche Menschen stellen sich ein Selbst (atman) vor,
    wo es keines gibt,
    und so halten sie Glück und Leiden,
    Gleichmut, Leidenschaften und Befreiung für wirklich.

  6. Die Geburt in den sechs Daseinsbereichen,
    das grösste Glück des Himmels,
    die grösste Pein der Hölle -
    all dieses gibt es nicht im Bereich der Wirklichkeit.

  7. Und das gleiche gilt für die Vorstellungen,
    daß unheilsames Handeln zu extremem Leiden,
    Alter, Krankheit und Tod führe,
    wohingegen verdienstvolles Handeln
    mit Sicherheit zu guten Ergebnissen führe.

    7-A.
    Aufgrund von falschen Vorstellungen
    werden die Lebewesen vom Feuer der Leidenschaften verzehrt,
    gleich einem Wald in einer Feuersbrunst,
    und fallen in ihre Höllen.

    7-B.
    Wo die Illusion vorherrscht, entsteht der Anschein von Wesen.
    Doch diese Welt ist ein Schein,
    und sie existiert nur als Beziehung von Ursachen und Wirkungen.

  8. So wie ein Maler vor der fürchterlichen Figur
    eines Dämons (yaksa) erschrickt, den er selbst gemalt hat,
    so fürchtet sich der weltliche Mensch
    vor seinen eigenen Vorstellungen von der Welt.

  9. So wie ein Narr in einem Morast versinkt,
    in den er selbst hineingegangen ist,
    so versinken die Lebewesen im Morast falscher Begriffe,
    unfähig sich zu befreien.

  10. Sieht man etwas Unwirkliches für wirklich an,
    dann wird man Leiden erfahren.
    Die Lebewesen werden gequält vom Gift
    ihrer falschen Wahrnehmungen.

  11. Wenn man diese hilflosen Lebewesen sieht,
    so sollte man mit einem mitfühlenden Herzen
    zum Wohle aller Wesen
    die Vollkommene Weisheit (bodhicarya) praktizieren.

  12. Nachdem man die Voraussetzungen (Verdienste) geschaffen hat,
    sich von den Fesseln der Illusionen befreit hat
    und das unübertreffliche Erwachen (bodhi) erfahren hat,
    möge man zu einem Buddha werden, einem Freund der Welt.

  13. Wer die transzendente Wahrheit verwirklicht
    und abhängiges Entstehen (pratityasamutpada) versteht,
    der weiss, dass die Welt leer (sunya) ist
    und ohne Anfang, Mitte und Ende.

  14. Samsara und Nirvana sind nur äusserer Schein;
    die ursprüngliche Wahrheit ist
    rein, unveränderlich,
    still und strahlend.

  15. So wie Traumbilder
    beim Erwachen verschwinden,
    so löst sich die Welt für jene auf,
    die aus der Dunkelheit des Unwissens erwachen.

    15-A.
    Das Entstehen einer Illusion ist nichts als eine Illusion.
    Wo alles zusammengesetzt ist, gibt es nichts,
    das als Ding an sich betrachtet werden könnte.
    Und so ist die Natur aller Dinge.

  16. Niemand entsteht (jati) aus sich selbst heraus.
    Entstehen ist eine unzutreffende Vorstellung der Menschen.
    Solche Vorstellungen und (vorgestellte) Lebewesen
    sind nur Illusionen.

  17. All dies ist nur Geist (citta)
    und existiert nur so wie eine Illusion.
    So entstehen gute und böse Handlungen
    und daraus gute und böse Geburten.

  18. Wenn das Rad des Geistes angehalten wird,
    werden alle Dinge angehalten.
    So sind alle Dinge leer von einem Selbst (atman)
    und also rein.

  19. Nur wenn alle bedingten Dinge für ewig, für angenehm
    und als ein Selbst (atman) betrachtet werden,
    erscheint dieser Ozean der Existenz (bhava) jenen Wesen,
    die von der Dunkelheit der Anhaftung und Unwissenheit umhüllt sind.

  20. Wer kann das andere Ufer erreichen,
    jenseits des grossen Ozeans von Samsara,
    angefüllt mit dem Wasser falscher Begriffe,
    ohne in das Grosse Fahrzeug (Mahâyâna) einzutreten?

    20-A.
    Wie könnten all diese falschen Begriffe
    in einem Menschen entstehen,
    der zutiefst diese Welt der Unwissenheit versteht?

    Hier endet das Mahâyânavimsakâ von Âcârya Nâgârjuna.
     


Ins Deutsche übertragen von M.B. Schiekel, Ulm, 2005.

Dies wurde dargebracht mit Gebeten für das Fortwirken des Segens des Ehrw. Chime Rinpoche  -  zum Wohl aller Wesen.

Sarva Mangalam.

 

 

Anhang

Das Mahâyânavimsakâ ist seit über tausend Jahren ein in den tibetischen und chinesischen Mahâyâna-Schulen sehr beliebter Text, der regelmäßig gelehrt, kommentiert und als Grundlage für die Meditation über Leerheit (sûnyatâ) und bedingtes Entstehen (pratîya samutpâda) genutzt wurde.

Dieser Text wird von der tibetischen Tradition Nâgârjuna (ca. 200 u.Z.), dem berühmten Gründer der Mâdhamaka-Philosophie, zugeschrieben. Bhattacharya führt in seiner Arbeit eine Reihe von Indizien auf, die eher darauf schließen lassen, daß das Mahâyânavimsakâ von Nâgârjuna, dem Siddha (ca. 650 u.Z.), einem der berühmten 84 buddhistischen Siddhas in Indien, verfaßt wurde. Zweifelsfrei läßt sich das anhand der zur Verfügung stehenden Quellen heute nicht beantworten.

Interessant ist jedoch in jedem Fall, daß der Nâgârjuna unseres Textes keine solch ausschließliche Mâdhamaka-Position vertritt, wie etwa die tibetischen Nâgârjuna-Kommentatoren Chandrakîrti und Sântaraksita. In unserem Text finden sich auch Einsichten der Vijnânavâda-Schule wieder und daher ist dieser Text tatsächlich, wie sein Titel ja sagt, eine kurze Darlegung des Mahâyâna Weges.

Heute liegen uns vier verschiedene Versionen des Mahâyânavimsakâ vor:

  1. Tib.2: die Sanskrit-Tibetisch Übersetzung von Pandit Candracumâra und dem tibetischen Übersetzer Bhiksu Sha'kya'od (ca. 800 u.Z.),
  2. Tib.1: die Sanskrit-Tibetisch Übersetzung von Pandit Ânanda (Jayâanda) und dem tibetischen Übersetzer Bhiksu Grags 'byor shes rab,
  3. Chin.: die Sanskrit-Chinesisch Übersetzung von Shî-hu (Dânapâla, ca. 980 u.Z.),
  4. Skrt.: eine erst im 20. Jh. von Tucci entdeckte Sanskrit-Version in saradâ-Schriftzeichen, entstanden ca. 700-800 u.Z., aufgefunden im Nor-Kloster.

Alle vier Versionen weichen in der Reihenfolge der Verse voneinander ab. Eine Übersicht zeigt die folgende Tabelle:
 

Bhattacharya
Skrt. & Engl.
Tucci
Skrt. & Engl.
Candracumâra
Tib.2
Ânanda
Tib.1
Shi-hu
Chin.
1-5 1-5 1-5 1-5 1-5
6 6 6 6 7
7 - 7 7 6
7-A 7 8 - 8
7-B 8 9 - 9
8 9 10 8 10
9 10 11 9 11
10 11 12 10 12
11 12 13 11 13
12 13 14 12 14
13 14 15 13 15
14 15 16 14 16
15 16 17 15 17
-
 
20 c. d.
19 a. b.
-
 
-
 
18 a. b.
18 c. d.
- 20 b. - - 19 d.
15-A 17 18 - 23
16 19 - 17 -
17 18 19 18 20
18 - 20 19 21
19 20 21 16 -
- - - - 23
20 21 22 20 24
20-A - 23 - 22

 
1931 unternahm es Bhattacharya, die drei damals bekannten Text-Versionen, Tib.2, Tib.1 und Chin. sorgfältig (Zeile für Zeile, Wort für Wort) zu vergleichen und daraus eine rekonstruierte Version in Sanskrit und Englisch zu erstellen. Bhattacharya's englische Version ist weiter unten wiedergegeben. (Seine umfangreiche Arbeit ist für Interessierte auch heute noch wirklich lesenswert.)

Diese englische Version von Bhattacharya wurde hier als Grundlage für eine deutsche Übertragung zugrundegelegt. Dabei wurde aber, ebenso wie dies auch Jamieson in seiner modernen und ausführlichen englischen Darstellung getan hat, immer wieder auch auf die von Tucci entdeckte Sanskrit-Fassung und auf die neue Tibetisch-Englisch Übersetzung von Tib.1 durch Anagarika Kunzang Tenzin (1973) zurückgegriffen. Dabei ging es mir darum, die innere Konsistenz des Textes möglichst klar und verständlich aufzuzeigen, und seinen Nutzen für Praktizierende des Mahâyâna Weges.

                                                                  M.B.S.

 

Mahâyânavimsakâ of Nâgârjuna

(Edited by Vidhusekhara Bhattacharya)
 

ADORATION TO THE THREE TREASURES

  1. I make my obeisance to the Buddha
    who is wise, free from all attachment,
    and whose powers are beyond conception,
    and who has kindly taught the truth
    which cannot be expressed by words.

  2. In the transcendental truth there is no origination (utpada),
    and in fact, there is no destruction (nirodha).
    The Buddha is like the sky (which has neither origination nor cessation),
    and the beings are like him, and therefore they are of the same nature.

  3. There is no birth either on this or the other side (of the world).
    A compound thing (samskrta) originates from its conditions.
    Therefore it is sunya by its nature.
    This fact comes into the range of knowledge of an omniscient one.

  4. All things by nature are regarded as reflections.
    They are pure and naturally quiescent,
    devoid of any duality, equal,
    and remain always and in all circumstances in the same way (tathata).

  5. In fact, worldings attribute atman
    to what is not atman,
    and in the same way they imagine happiness, misery,
    indifference, passions and liberation.

  6. Birth in the six realms of existence in the world,
    highest happiness in the heaven, great pain in the hell, -
    these do not come within the perview of truth
    (i.e. cannot be accepted as true);

  7. nor do the notions
    that unmeritorious actions lead to the extreme misery,
    old age, disease, and death,
    and meritorious actions
    surely bring about good results.

    7-A.
    It is owing to false notions
    that beings are consumed by fire of passions
    even as a forest is burnt by forest conflagration
    and fall into the hells, etc.

    7-B.
    As illusion prevails so do beings make their appearance.
    The world is illusory
    and it exists only on account of its cause and conditions.

  8. As a painter is frightened by the terrible figure
    of a Yaksa which he himself has drawn,
    so is a fool frightened
    in the world (by his own false notions).

  9. Even as a fool going himself to a quagmire
    is drowned therein,
    so are beings drowned in the quagmire of false notions
    and are unable to come out thereof.

  10. The feeling of misery is experienced
    by imagining a thing where in fact it has no existence.
    Beings are tortured by the poison of false notions
    regarding the object and its knowledge.

  11. Seeing these helpless beings with a compassionate heart
    one should perform the practices
    of the highest knowledge (bodhicarya)
    for the benefit of them.

  12. Having acquired requisites thereby
    and getting unsurpassable bodhi
    one should become a Buddha, the friend of the world,
    being freed from the bondage of false notions.

  13. He who realizes the transcendental truth
    knowing the pratityasamutpada
    (or the manifestation of entities depending on their causes and conditions),
    knows the world to be sunya
    and devoid of beginning, middle or end.

  14. The samsara and nirvana are mere appearances;
    the truth is stainless, changeless,
    and quiescent from the beginning
    and illumined.

  15. The object of knowledge in dream
    is not seen when one awakes.
    Similarly the world disappears to him
    who is awakened from the darkness of ignorance.

    15-A.
    The creation of illusion is nothing but illusion.
    When everything is compound there is nothing
    which can be regarded as a real thing.
    Such is the nature of all things.

  16. One having origination (jati) does not originate himself.
    Origination ist a false conception of the people.
    Such conceptions and (conceived) beings,
    these two are not reasonable.

  17. All this is nothing but mind (citta)
    and exists just like an illusion.
    Hence originate good and evil actions
    and from them good and evil birth.

  18. When the wheel of the mind is suppressed,
    all things are suppressed.
    Therefore all things are devoid of atman (independent nature),
    and consequently they are pure.

  19. It is due to thinking the things
    which have no independent nature as eternal, atman, and pleasant
    that this ocean of existence (bhava) appears to one
    who is enveloped by the darkness of attachment and ignorance.

  20. Who can reach the other side of the great ocean of samsara
    which is full of water of false notions
    without getting into the great vehicle (i.e., Mahayana)?

    20-A.
    How can these false notions arise in a man
    who thoroughly knows this world
    which has originated from ignorance?

    Here ends the Mahâyânavimsakâ of Âcârya Nâgârjuna.

     

 

Zurück / Startseite Bild: W3C-HTML4.01 validiert Bild: W3C-CSS validiert