Im indisch hinduistischen Denken wurde seit frühesten Zeiten die Welt, wie sie
unseren Sinnen zugänglich ist, für einen oberflächlichen Schein,
eine Illusion und Täuschung (mâyâ) angesehen. Hinter dieser täuschenden
Oberfläche aber, so der Glaube, befinde sich das wahre, ewige, göttliche Sein.
Buddha jedoch war ein sehr nüchterner Erforscher der Phänomene unseres Geistes und
wies für sich alles spekulative Denken über ewige und absolute Dinge zurück.
Für ihn stand die Frage der Ursachen und der Überwindung des menschlichen Leides
im Mittelpunkt. Er unterschied zwei Arten von Bedingungen: 'natürliche Bedingungen' und
'im Geiste entstehende Bedingungen'. Da der Mensch auf 'natürliche Bedingungen', wie
etwa Naturkatastrophen, kaum einen Einfluss nehmen kann, aber sehr wohl auf die 'im
Geiste entstehenden Bedingungen', legte Buddha den Schwerpunkt seines Lehrens auf die
Kultivierung und Entfaltung des menschlichen Geistes hin zu Mitgefühl und Weisheit,
zu innerer Freiheit und Frieden.
Im Dhammapada, einer der alten buddhistischen Schriften aus dem Pali-Kanon, heißt es
in den Versen 1 und 2 (siehe etwa: M.B. Schiekel, 1998):
Alle Dinge entstehen im Geist,
Sind unseres mächtigen Geistes Schöpfung.
Rede mit unreinem Geist,
Handle mit unreinem Geist,
Und Leiden wird dir folgen,
Wie das Rad dem Fuß folgt, der den Wagen
zieht.
Alle Dinge entstehen im Geist,
Sind unseres mächtigen Geistes Schöpfung.
Rede mit reinem Geist,
Handle mit reinem Geist,
Und Glück wird dir folgen,
Wie der Schatten dem Körper folgt,
und nicht weicht.
Hier wird aus dem Zusammenhang heraus deutlich, daß der Satz: "Alle Dinge entstehen
im Geist" sich im frühen Buddhismus eindeutig darauf bezog, daß all unserem Reden und
Handeln stets eine geistige Aktivität vorausgeht und daß wir durch achtsamen Umgang
mit unseren Geistesfaktoren Leiden vermeiden und Glück erlangen können. Es ist ja
auch so offensichtlich, daß Kriege eben nicht einfach 'ausbrechen', wie etwa
Vulkane, sondern von Menschen geplant und durchgeführt werden.
Im Mahâyâna-Buddhismus entstand nun etwa im 4.Jh. in Indien eine buddhistische
philosophische Schule, die 'Bewußtsein-Schule' (Vijñânavâda), die sich intensiver
mit dem menschlichen Geist, seinen Faktoren und seiner Dynamik auseinandersetzte.
Dies geschah vornehmlich mit zwei verschiedenen Ansätzen:
- mit dem Interesse, neue hilfreiche Meditationsmethoden zu entwickeln
(Asanga, 290-360); diese Richtung wird auch Yogâcâra genannt;
- mit erkenntnistheoretischem Interesse (Vasubandhu, 316-396); dies ist die
Vijñânavâda-Schule im engeren Sinne.
Der chinesische Mönch Xuanzang (Hsüan-tsang, 596-664) reiste in den Jahren 629-645
nach Indien und studierte an der buddhistischen Universität Nalanda intensiv die
Vijñânavâda-Lehren.
Nach seiner Rückkehr nach China übersetzte er viele Texte des Theravâda- und des
Mahâyâna-Buddhismus in die chinesische Sprache, insgesamt 75 Werke, darunter
auch alle Werke Vasubandhus, und begründete so die chinesische Wei-shi-Schule
(Nur-Bewußtsein-Schule).
Vasubandhu und andere Vijñânavâda-Philosophen haben darauf hingewiesen, daß,
wenn wir von 'Dingen' (dharmas) und von der 'Welt' reden, wir ja tatsächlich
immer nur von Bildern und Objekten in unserem Bewußtsein reden. Ob es also vom
Bewußtsein unabhängige, objektiv existierende Dinge gibt, ist für die
Vijñânavâda-Philosophen nicht beweisbar und wird von ihnen bezweifelt.
Natürlich ist es richtig, daß viele von Menschen angeführten 'Sachzwänge',
insbesondere in unserer Politik und Wirtschaft, tatsächlich nur Ergebnisse
'zwanghaften Denkens' sind. Aber in seinem Totalitätsanspruch, daß eben "alles nur
Geist ist", scheint mir das Vijñânavâda doch eine zu einseitige Position zu
vertreten.
Eine sehr schöne Entgegnung aus der Sicht des kritischen Realismus stammt von
Bertold Brecht (1898-1956) aus seiner Skizze Turandot oder der Kongreß der
Weißwäscher (Gesammelte Werke, Bd.14, Suhrkamp, Frankfurt/M., 19XX):
«Der Lehrer: Si Fu, nenne uns die Hauptfragen der Philosophie!
Si Fu: Sind die Dinge außer uns, für sich, auch ohne uns, oder sind die Dinge
in uns, für uns, nicht ohne uns?
Der Lehrer: Welche Meinung ist die richtige?
Si Fu: Es ist keine Entscheidung gefallen.
Der Lehrer: Zu welcher Meinung neigte zuletzt die Mehrheit unserer Philosophen?
Si Fu: Die Dinge sind außer uns, für sich, auch ohne uns.
Der Lehrer: Warum blieb die Frage ungelöst?
Si Fu: Der Kongreß, der die Entscheidung bringen sollte, fand, wie seit zweihundert
Jahren, im Kloster Mi Sang statt, welches am Ufer des Gelben Flusses liegt.
Die Frage hieß: Ist der Gelbe Fluß wirklich, oder existiert er nur in den
Köpfen? Während des Kongresses aber gab es eine Schneeschmelze im Gebirge,
und der Gelbe Fluß stieg über seine Ufer und schwemmte das Kloster Mi Sang
mit allen Kongreßteilnehmern weg. So ist der Beweis, daß die Dinge außer
uns, für sich, auch ohne uns sind, nicht erbracht worden.»
Aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht wird man die Frage, wie der
Erkenntnisapparat
(Sinne und Denken) und die Erkenntnisobjekte zueinander bezogen sind, wohl mit der
'evolutionären Erkenntnistheorie' beantworten (siehe etwa: G. Vollmer, 1998). Die
Evolution des Lebens stellt einen (lokal) Entropie-vermindernden
(d.h. Information-gewinnenden) Prozeß dar, der dazu führt, daß sich die
Erkenntnisapparate der Lebewesen immer besser an die Strukturen der Umwelt anpassen.
Dennoch bleiben die von den Vijñânavâda-Denkern aufgeworfenen Fragen über die
wichtigsten Geistesfaktoren und insbesondere über die Dynamik dieser Faktoren in
der Wechselwirkung zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein, zwischen individuellen und
kollektiven Anteilen auch heute ein außerordentlich wichtiges Thema. Natürlich wird
man auch die Einsichten der modernen Neurologie zur Funktion unseres Bewußtseins
in die Diskussion mit einbeziehen müssen (siehe etwa: J.H. Austin,1998;
M. Spitzer, 2004). Aber sicherlich bleibt richtig, daß wir ohne ein vertieftes
Verständnis der Funktion unseres Geistes und der weisen Kultivierung heilsamer
Geistesfaktoren weder für uns selbst noch für unsere Familien und unsere Gesellschaft
Frieden, Freude, Befreiung und Glück erlangen können. Hierzu kann Thich Nhat Hanh's
Neuinterpretation der Lehren der buddhistischen Bewußtsein-Schule, oder
Manifestationen-Schule, einen wertvollen Beitrag leisten.
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- Allgemein
- M.B. Schiekel, Dhammapada; Herder Verlag,
Freiburg, 1998.
- M.B. Schiekel, Kleine Übersicht über Philosophie
und Praxis einiger buddhistischer Schulen, 1996.
- H.W. Schumann: Mahayana-Buddhismus; München, Diederichs, 1995.
- V. Zotz: Geschichte der buddhistischen Philosophie; Rowohlt Verlag,
Hamburg, 1996.
- E. Frauwallner: Die Philosophie des Buddhismus; Berlin, Akad.-Verlag, 1994.
- Lama Anagarika Govinda: Die Dynamik des Geistes; O. W. Barth Verlag, 1992.
- Thich Nhat Hanh: Schlüssel zum Zen; Freiburg i. Br., Verlag Herder, 1996.
- Thich Nhat Hanh: Transformation at the Base; Parallax Press, Berkeley,
CA., USA, 2001.
- Thich Nhat Hanh: Aus Angst wird Mut; Theseus Verlag, Berlin, 2003.
- G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie; S. Hirzel Verlag, Suttgart, 1998.
- J.H. Austin: Zen and the Brain - Towards an Understanding of Meditation
and Consciousness; MIT Press, Cambridge, USA, 1999.
- M. Spitzer: Selbstbestimmen; Spektrum Akad. Verlag, München, 2004.
- Speziell
- P. Pfandt: Mahayana Texts translated into Western Languages -
A Bibliographical Guide; Köln, 1986.
- Buddhaghosa: Visuddhi-magga, Der Weg der Reinheit,
Übersetzung von Nyanatiloka Mahathera; Uttenbühl, Jhana Verlag, 1997.
- Asanga: Mahayanasamgraha-Shastra; siehe etwa:
- G.M. Nagao: An index to Asanga's Mahayanasamgraha;
Pt. 1, Tibetan-Sanskrit-Chinese, Pt. 2, Sanskrit-Tibetan-Chinese,
Internat. Inst. for Buddhist Studies, Tokyo, 1994.
- E. Lamotte, La Somme du Grand Véhicule d'Asanga: Mahayanasamgraha;
Louvain-La-Neuve, Belgien, Univ., Inst. orient., 1973.
- P.J. Griffiths: The Realm of Awakening -
Chapter Ten of Asanga's Mahayanasamgraha;
Oxford Univ. Pr., New York, 1989.
- J.P. Keenan, The Summary of the Great Vehicle;
BDK English Tripitaka 46,3;
Numata Center for Buddhist Translations and Research, Berkeley, CA,
USA, 1992.
- Vasubandhu: Abhidharmakosa, Vimsatika, Trimsika, siehe etwa:
- S. Jha, P. Prahlad, L. de la Vallée Poussin:
The Abhidharmakosa of Vasubandhu;
K.P. Jayaswal Research Inst., Patna, 1983.
[engl. Übers. des Sanskrit Textes durch P. Pradhan, und engl. Übersetzung
durch S. Jha der chin.-franz. Übers. von L. de la Vallée Poussin.]
- S. Anacker: Seven Works of Vasubandhu, the Buddhist Psychological
Doctor;
Dehli, Motilal Banarsidass, 1986/2002.
[Dies ist eines der Standard-Werke über Vasubandhu. Es enthält eine
Biographie über Vasubandhu und alle seine wichtigen Texte,
u.a. das Abhidharmakosha-Shastra, Vimsatika und Trimsika.]
- T.A. Kochumuttom: A Buddhist Doctrine of Experience;
Motilal Banarsidass Publishers, Delhi, India, 1982.
[Dies ist das andere Standard-Werk über Vasubandhu.
Kochumuttom argumentiert gegen die übliche idealistische Interpretation
von Vasubandhu und versucht stattdessen in den Kommentaren zu seiner
Übersetzung zu zeigen, dass Vasubandhu's Sichtweise ein (buddhistischer)
kritischer Realismus ist.]
- George Cronk: Twenty Verses on Consciousness-Only;
http://www.cronksite.com/wp-content/uploads/2014/02/VasubandhuGC.pdf
Bergen Community College, Paramus, N.J., USA, 1998.
[eine gute engl. Online-Übersetzung der 'Zwanzig Verse'.]
- Wei Tat (ed. Thomas Tam): Vijñaptimâtratâsiddhi-Trimsika by
Vasubandhu;
http://aaari.info/notes/04-06-04Tam.pdf
USA, 2004.
[eine Übersetzung des chinesischen Textes der 'Dreißig Verse' von
Hsüan-tsang ins englische durch Wei Tat, kommentiert und
veröffentlicht von Thomas Tam.]
- H.G. Jacobi: Trimsikavijnapti des Vasubandhu, mit Bhasya
des Acarya Sthiramati;
Stuttgart, Kohlhammer, 1932.
[eine (ältere) deutsche Übersetzung der 'Dreißig Verse'.]
- Xuanzang (Hsüan-tsang), siehe etwa:
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