Das Lied von der Grasdach-Klause

草庵歌

Caoan ge
Yao an ko (Wade-Giles)
Sōan ka (jap.)
 
von Chan-Meister Shítóu Xīqiān (700–790)
  石頭希遷  
Shih-t'ou Hsi-ch'ien (Wade-Giles)
Sekitō Kisen (jap.)


Deutsche Übertragung des "Liedes von der Grasdach-Klause" von Chan-Meister Shítóu Xīqiān durch Munish B. Schiekel, auf der Basis der chin.-engl. Übersetzung von Taigen Dan Leighton & Kazuaki Tanahashi in Windbell 1985:
SONG OF THE GRASS- ROOF HERMITAGE by Sekito Kisen (Shitou Xiqian), Daniel Leighton and Kazuaki Tanahashi, und der Übertragung des "Liedes von der Grasdach-Klause" von Chan-Meister Shítóu Xīqiān in:
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009, und des chin. Quell-Textes in
Online Taisho-Tripitaka T51n-2076 [030], Suche nach 石頭和尚草庵歌 . Dieser Teil des Taisho enthält die wichtige Chan-Schrift Jǐngdé Chuándēnglù (景德傳燈錄, jap. Keitoku dentōroku), die "Die Jingde-Aufzeichnung von der Übertragung der Lampe".
 
Version 1.01, ©opyright:    M.B. Schiekel, 08.07.2024, D-89073 Ulm.
Der Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Übersetzers.

Der chinesische buddhistische Mönch Shítóu Xīqiān (700-790) lebte in Südchina und wirkte dort als buddhistischer Lehrer der Chan-/Zen-Tradition. Er war ein Schüler des 6. Chan-Patriarchen Dàjiàn Huìnéng (大鑒惠能; jap. Daikan Enō) und dessen Schüler und Nachfolger Qīngyuán Xíngsī (青原行思; jap. Seigen Gyōshi). Die Historizität von Qīngyuán Xíngsī gilt neuerdings in der Chan-Forschung als umstritten. In jedem Fall aber berufen sich 3 der 5 chinesischen und japanischen Chan-/Zen-Linien auf Shítóu Xīqiān als wichtigen Lehrer ihrer Tradition, und zwar Caodong/Sōtō, Yunmen/Unmon und Fayan/Hōgen.

Quelle: Fozu zhengzong daoying, 1880, Holzschnitt, PD.:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Shitou_Xiqian.jpg.
艸庵歌 Das Lied von der Grasdach-Klause
 
1. 吾結草庵無寶貝、飯了從容圖睡快。 Ich habe eine Grashütte gebaut,
in der es nichts von Wert gibt.
Nach dem Essen entspanne ich mich
und erfreue mich an einem Schläfchen.
 
2. 成時初見茆草新、破後還將茆草蓋。 Als die Hütte fertig war begann das Unkraut zu wachsen.
Jetzt wird sie bewohnt
und ist ganz eingeschlossen von Pflanzengrün.
 
3. 住庵人、鎭常在。不屬中間與内外。 Der Mensch in der Hütte hier lebt gelassen,
ist nicht betroffen von Innerem, Äußerem
oder Sonstigem.
 
4. 世人住處我不住、世人愛處我不愛。 Wo weltliche Menschen leben, da lebt er nicht,
was weltliche Menschen lieben, das liebt er nicht.
 
5. 庵雖小、含法界。方丈老人相體解。 Obwohl die Hütte klein ist, enthält sie die ganze Welt.
Auf neun Quadratmetern erleuchtet ein alter Mann
die Formen und ihr Wesen.
 
6. 上乘菩薩信無疑、中下聞之必生怪。 Ein Mahayana-Bodhisattva vertraut
und ist ohne Zweifel.
Durchschnittliche oder geringere Menschen
werden sich fragen:
 
7. 問此庵、壞不壞。壞與不壞主元在。 Wird diese Hütte zugrunde gehen oder nicht?
Vergänglich sein oder nicht?
Der ursprüngliche Meister ist gegenwärtig.
 
8. 不居南北與東西、基址堅牢以爲最。 Er verweilt nicht im Süden oder Norden,
Osten oder Westen.
Fest gegründet in Beharrlichkeit,
nichts kann dies übertreffen.
 
9. 青松下、明窓内。玉殿朱樓未爲對。 Ein leuchtendes Fenster unter grünen Kiefern –
Damit können sich Jadepaläste
oder zinnoberrote Türme nicht messen.
 
10. 衲帔幪頭萬事休、此時山僧都不會。 Einfach nur sitzen mit einem Dach über dem Kopf
und alle Dinge sind in Ruhe.
Daher versteht dieser Bergmönch
überhaupt nichts mehr.
 
11. 住此庵、休作解。誰誇鋪席圖人買。 Er lebt hier und arbeitet nicht länger daran,
sich zu befreien.
Wer wollte denn da stolz Sitze herrichten
um Gäste anzulocken?
 
12. 迴光返照便歸來、廓達靈根非向背。 Wende das Licht herum, daß es das Innere erleuchtet,
und dann kehre einfach zurück.
Der unermeßlichen, unfaßbaren Quelle
kann man nicht gegenübertreten,
noch kann man sich von ihr abwenden.
 
13. 遇祖師、親訓誨。結草爲庵莫生退。 Begegne den alten Meistern,
werde vertraut mit ihren Anweisungen.
Binde Grasbüschel, um eine Hütte zu bauen
und gib nicht auf.
 
14. 百年抛却任縱横、擺手便行且無罪。 Laß die Jahrhunderte vorübergehen
und entspanne dich vollkommen.
Öffne deine Hände und gehe ganz natürlich.
 
15. 千種言、萬般解。只要教君長不昧。 Tausende Worte, Myriaden Interpretationen
haben ja nur den Sinn,
dich von Hindernissen zu befreien.
 
16. 欲識庵中不死人、豈離而今遮皮袋。 Wenn du den Unsterblichen in der Hütte
kennenlernen willst,
so wende dich hier und jetzt
nicht ab von diesem Hautsack.
 
Shítóu Xīqiān wurde in Duan Zhou im Bezirk Gaoyao (高要区) in Guangdong (广东, Kanton) in Südchina geboren. Sein Familienname war Chen (程). Die Menschen in seiner Gegend hatten Angst vor Geistern und veranstalteten deshalb regelmäßig Opferriten mit Kühen. Es heißt, daß der junge Chen immer wieder Opferkühe stahl und freiließ. Schon in sehr früher Jugend machte er sich auf den Weg zum Nánhuá-Tempel (南華寺, Nánhuá Sì), um dort den 6. Patriarchen des Chan/Zen Dàjiàn Huìnéng (大鑒惠能; jap. Daikan Enō) zu besuchen. Dieser starb jedoch kurz darauf im Jahr 713, als der junge Chen erst 13 Jahre alt war. Darauf wandte dieser sich an Huìnéngs Schüler und Nachfolger Qīngyuán Xíngsī (青原行思; jap. Seigen Gyōshi), der in einem Tempel auf dem Berg Qīngyuán lebte und lehrte. Qīngyuán bestätigte Shítóu als seinen Nachfolger und dieser wanderte anschließend durch Südchina. Er kam wohl um das Jahr 720 oder etwas später auf dem Berg Héng Shān (衡山) an. Dieser wurde früher auch als Nán Yuè oder „Süd-Berg“ (南岳) bezeichnet, liegt in der südchinesischen Provinz Hunan (湖南省; Húnán Shěng) und beherbergte zahlreiche daoistische und buddhistische Tempel. Dort errichte er sich eine Grashütte auf einem abgelegenen großen Felsen, in der er jahrelang einsam meditierte. Der Fels hieß Shítóu (石头), 'Steinkopf', und er wählte auch für sich selbst diesen Namen.
Das berühmte "Lied von der Grasdach-Klause" bezieht sich auf diese Meditationshütte von Shítóu und zeigt seine große Wertschätzung für das stille und zurückgezogene Leben eines buddhistischen Bergmönchs.
Im Jahr 742 errichtete er neben dem dort auf dem Héng Shān Berg schon bestehenden Nantai Tempel (南臺寺, Nántaí Sì) einen weiteren buddhistischen Tempel, in dem er lehrte.
Der Buddhologe Mario Poceski (s.u.) schreibt, daß Shítóu zu seiner Lebenszeit in Südchina nicht sehr bekannt war, ebenso übrigends wie sein Freund und Zeitgenosse Mǎzǔ Dàoyī (馬祖道一; jap. Baso Dōitsu; 709–788). Beide wurden erst später in der Song-Dynastie (960-1279.) sehr populär, weil sich ihre Song-zeitlichen Nachfolger sehr stark auf Shítóu und Mǎzǔ bezogen.
Der Überlieferung nach lehrten diese beiden Meister Chan/Zen auf deutlich unterschiedliche Weise, aber sie schätzen einander und schickten ihre Schüler jeweils zum anderen Meister, wenn sie der Meinung waren, daß ihre Schüler davon profitieren könnten.
Shítóu starb im Jahr 790 und erhielt nach seinem Tod den Ehrennamen Wuji Dashi (無際大師), 'Grenzenloser Meister'.
 
Als Nachfolger von Shítóu Xīqiān gilt Yàoshān Wéiyǎn (藥山惟儼; jap. Yakusan Igen; 745-827), der zugleich auch ein Schüler von Mǎzǔ Dàoyī (709–788) war.
 

Zitat Wilhelm Gundert, Bi-Yän-Lu, Band 2, Beispiel 40, S. 154-155:
Der hier erwähnte buddhistische Mönch Sēngzhào (僧肇; jap. Sōjō; 384–414) war ein bedeutender Schüler und Mitarbeiter des großen Sanskrit-Chinesisch Übersetzers Kumārajīva (鳩摩羅什; 344–413). Die Namen wurden auf Pinyin geändert, eigene Einfügungen in eckige Klammern gesetzt.
 
Den entscheidenden Anstoß zu seiner eigenen Erkenntnis (sieht man von der Jugenderinnerung an Huìnéng und den Umgang mit Qīngyuán ab) hat Shítóu bei der Lektüre einer Schrift des Mönches Sēngzhào empfangen. Einst las er dessen Abhandlung "Von der Namenlosigkeit des Nirvâna" und kam an die im Text erwähnte Stelle, wo es heißt: "Wer die Welt der Dinge so versteht, daß er in diesen allen stets sich selber sieht, der dürfte wohl ein Heiliger sein." Da durchfuhr es ihn, daß er auf den Tisch schlug und sagte: Der Heilige besitzt kein eigenes Selbst, weil alles eigenes Selbst ist; wer will da noch von Ich, Du, von eigenem Selbst und einem Anderen reden! Und darauf schrieb er die Erkenntnis, die ihn erfüllte, in vierundvierzig Sätzchen zu je fünf Wortzeichen nieder, die unter dem Titel "Ungleich und gleich im Bunde" [Cāntóngqì, 參同契; jap. Sandōkai] bei den Zen-Schulen, vor allem aber bei der Sôtô-Sekte, bis heute in Ansehen stehen.
Wie Shítóu diese seine Einheitserkenntnis verstanden wissen wollte, darüber hat er sich vor seiner Hörerschaft mit folgenden Worten ausgesprochen [Jǐngdé Chuándēnglù, 景德傳燈錄, jap. Keitoku dentōroku, Taisho Tripitaka (Taisho Shinshu Daizokyoi), vol. 14.]:
"Meine Lehre vom GESETZ, die ich von früheren Buddhas überkommen habe, handelt nicht von heldenhaftem Fortschritt in Zuständen der Versenkung, sondern ich will nichts weiter erreichen als das Wissen und die Schau eines Buddha. Sie spricht sich in dem Satz aus:
Eben da, wo Herz (Bewußtsein, Geist) ist, eben da ist Buddha.
[ 即心 即佛 = jí xīn jí fó = jap. soku shin soku butsu ]

Herz, Geist, Buddha, irrende Lebewesen, erlösende Erkenntnis, Verblendung, das alles ist, wenn auch dem Namen nach verschieden, dem Wesen nach doch eines. Es gilt für euch, das eigene Herz zu erkennen, sich vom Glauben an die Dauerhaftigkeit der Dinge ebenso fernzuhalten wie von dem ans Nichts. Die Grundnatur ist weder rein noch unrein; taufrisch ist sie, rund und voll. Gemein und heilig stehen sich gleich, ihre Verwendung in der Praxis ist an keine Richtlinie gebunden. Alle drei Welten und die sechs Wege des Kreislaufs von Geburt und Tod (nämlich die der Höllenwesen, der hungernden Gespenster, Tiere, streitenden Geister, Himmelswesen) treten alle aus dem Herzen her in Erscheinung. Wenn ihr dies richtig begriffen habt, so wird es euch an nichts gebrechen. Mein einziges Bestreben ist, es so weit zu bringen, daß die urgründige Stille des Wahrheitsleibes bei euch in Herz und Sinnen Eingang finde."


Shítóus Lehrgedicht "Ungleich und gleich im Bunde" [Cāntóngqì, 參同契; jap. Sandōkai] findet sich unter dem Titel "Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit" in einer Übersetzung des Autors dieser Zeilen in:
"Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit,
und in
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009,
sowie in zahlreichen verschiedenen Übertragungen im Internet.
即心 即佛         jí xīn jí fó
soku shin soku butsu (jap.)
Da wo der Herz-Geist ist,
da ist der Buddha.
Privates Rollbild des Autors
von Kuwahara Sensei.
 
Nebenbei: der Autor dieser Zeilen hat mehrere Jahre mit dem obigen Wort von Shítóu in Sinne eines Genjōkōan (現成公按) nach Zen-Meisters Dōgen praktiziert.
Eine gute Quelle über Shítóu und seine Schüler ist das Werk des US-amerikanischen Buddhologen Mario Poceski, Ordinary Mind as the Way: the Hongzhou School and the Growth of Chan Buddhism, Oxford University Press, Oxford, UK, 2007.
 
Auf der ZENline von Terebess finden sich unter Shítóu Xīqiān weitere englische Texte zu Shítóu Xīqiān, so die chin.-engl. Übersetzungen von
The Record of Shitou Xiqian, transl. by James Mitchell & Yulie Lou und
'Encounter Dialogues of Shitou Xiqian' trans. by Satyavayu.
 
Shítóu Xīqiān hatte einen großen Einfluß auf den chin. Chan-Meister Hóngzhì Zhēngjué (宏智正覺; jap. Wanshi Shōgaku; 1091–1157) und dessen Lehre von der Meditation des heiter gelassenen Widerspiegelns, oder auch schweigende Erleuchtung genannt (默照禪, mò zhào chán, jap. moku shō zen, engl. serene/silent reflection contemplation). Siehe wiederum:
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009.

 

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