Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit

參同契

Cāntóngqì
Ts'an T'ung Ch'i (Wade-Giles)
Sandōkai (jap.)
 
von Chan-Meister Shítóu Xīqiān (700–790)
 石頭希遷 
Shih-t'ou Hsi-ch'ien (Wade-Giles)
Sekitō Kisen (jap.)


Deutsche Übertragung von "Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit" von Chan-Meister Shítóu Xīqiān durch Munish B. Schiekel auf der Basis der deutschen Übertragung in:
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009, und des chin. Quell-Textes in
Online Taisho-Tripitaka T51n-2076 [030], Suche nach 南嶽石頭和尚參同契 . Dieser Teil des Taisho enthält die wichtige Chan-Schrift Jǐngdé Chuándēnglù (景德傳燈錄, jap. Keitoku dentōroku), die "Die Jingde-Aufzeichnung von der Übertragung der Lampe".
 
Version 1.01, ©opyright:    M.B. Schiekel, 08.07.2024, D-89073 Ulm.
Der Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Übersetzers.

Der chinesische buddhistische Mönch Shítóu Xīqiān (700-790) lebte in Südchina und wirkte dort als buddhistischer Lehrer der Chan-/Zen-Tradition. Er war ein Schüler des 6. Chan-Patriarchen Dàjiàn Huìnéng (大鑒惠能; jap. Daikan Enō) und dessen Schüler und Nachfolger Qīngyuán Xíngsī (青原行思; jap. Seigen Gyōshi). Die Historizität von Qīngyuán Xíngsī gilt neuerdings in der Chan-Forschung als umstritten. In jedem Fall aber berufen sich 3 der 5 chinesischen und japanischen Chan-/Zen-Linien auf Shítóu Xīqiān als wichtigen Lehrer ihrer Tradition, und zwar Caodong/Sōtō, Yunmen/Unmon und Fayan/Hōgen.

Quelle: Fozu zhengzong daoying, 1880, Holzschnitt, PD.:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Shitou_Xiqian.jpg.
參同契 Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit
 
1. 竺土大仙心
2. 東西密相付
Der Herz-Geist der großen Weisen aus Indien
wird unmittelbar weitergegeben, von West nach Ost.
 
3. 人根有利鈍
4. 道無南北祖
Die Fähigkeiten von Menschen sind scharfsinnig oder stumpf,
doch der WEG kennt keine nördlichen oder südlichen Dharmavorfahren.
 
5. 靈源明皎潔
6. 枝派暗流注
Die spirituelle Quelle erstrahlt klar im Licht;
die sich verzweigenden Ströme fließen in die Dunkelheit.
 
7. 執事元是迷
8. 契理亦非悟
Das Greifen nach Dingen ist sicherlich ein Wahn;
in Einklang mit der Gleichheit zu sein ist noch keine Erleuchtung.
 
9.  門門一切境
10. 迴互不迴互
Alle Sinnesobjekte wirken aufeinander ein
und doch auch nicht.
 
11. 迴而更相涉
12. 不爾依位住
Aufeinandereinwirken führt zu Verbundenheit.
Andererseits bleibt alles an seinem Platz.
 
13. 色本殊質像
14. 聲元異樂苦
Anschauungen variieren in Beschaffenheit und Form,
Klänge unterscheiden sich, sind angenehm oder grob.
 
15. 暗合上中言
16. 明明清濁句
Gebildete und gewöhnliche Sprache kommen im Dunkel zusammen,
klare und dunkle Sätze werden im Licht unterschieden.
 
17. 四大性自復
18. 如子得其母
Die vier Elemente kehren zu ihrer Natur zurück,
so wie ein Kind sich der Mutter zuwendet:
 
19. 火熱風動搖
20. 水濕地堅固
Feuer heizt, Wind weht,
Wasser näßt, Erde ist fest.
 
21. 眼色耳音聲
22. 鼻香舌鹹醋
Auge und Anschaungen, Ohr und Klänge,
Nase und Gerüche, Zunge und Geschmäcker -
 
23. 然依一一法
24. 依根葉分布
So ist es mit allen Dingen.
Da sie von diesen Wurzeln abhängen, sprießen die Blätter hervor.
 
25. 本未須歸宗
26. 尊卑用其語
Stamm und Zweige sind von gleichem Wesen;
verehrt und gewöhnlich, für jedes gibt es seine eigene Sprache.
 
27. 當明中有暗
28. 勿以暗相遇
Im Licht ist Dunkelheit,
aber halte es nicht für Dunkelheit.
 
29. 當暗中有明
30. 勿以明相覩
In der Dunkelheit ist Licht,
aber sieh es nicht als Licht.
 
31. 明暗各相對
32. 比如前後歩
Licht und Dunkel bedingen einander,
wie der vordere und der hintere Fuß beim Gehen.
 
33. 萬物自有功
34. 當言用及處
Jedes der unzählbaren Dinge hat seinen eigenen Wert,
gemäß seiner Funktion und seinem Ort.
 
35. 事存函蓋合
36. 理應箭鋒拄
Die Erscheinungen existieren - Gefäß und Deckel passen zueinander.
Das Prinzip antwortet - Pfeilspitzen treffen sich.
 
37. 承言須會宗
38. 勿自立規矩
Wenn du die Worte hörst, so erkenne ihre Bedeutung;
stelle nicht deine eigenen Sichtweisen auf.
 
39. 觸目不會道
40. 運足焉知路
Wenn du den WEG direkt vor dir nicht verstehst,
wie willst du ihn beim Gehen erkennen?
 
41. 進歩非近遠
42. 迷隔山河固
Vorankommen ist keine Frage von fern oder nah,
aber wenn du verwirrt bist, so versperren Berge und Flüsse deinen Weg.
 
43. 謹白參玄人
44. 光陰莫虚度
Ihr, die ihr das Geheimnis studiert, respektvoll bitte ich euch,
vergeudet nicht eure Tage und Nächte.
 
Shítóu Xīqiān wurde in Duan Zhou im Bezirk Gaoyao (高要区) in Guangdong (广东, Kanton) in Südchina geboren. Sein Familienname war Chen (程). Die Menschen in seiner Gegend hatten Angst vor Geistern und veranstalteten deshalb regelmäßig Opferriten mit Kühen. Es heißt, daß der junge Chen immer wieder Opferkühe stahl und freiließ. Schon in sehr früher Jugend machte er sich auf den Weg zum Nánhuá-Tempel (南華寺, Nánhuá Sì), um dort den 6. Patriarchen des Chan/Zen Dàjiàn Huìnéng (大鑒惠能; jap. Daikan Enō) zu besuchen. Dieser starb jedoch kurz darauf im Jahr 713, als der junge Chen erst 13 Jahre alt war. Darauf wandte dieser sich an Huìnéngs Schüler und Nachfolger Qīngyuán Xíngsī (青原行思; jap. Seigen Gyōshi), der in einem Tempel auf dem Berg Qīngyuán lebte und lehrte. Qīngyuán bestätigte Shítóu als seinen Nachfolger und dieser wanderte anschließend durch Südchina. Er kam wohl um das Jahr 720 oder etwas später auf dem Berg Héng Shān (衡山) an. Dieser wurde früher auch als Nán Yuè oder „Süd-Berg“ (南岳) bezeichnet, liegt in der südchinesischen Provinz Hunan (湖南省; Húnán Shěng) und beherbergte zahlreiche daoistische und buddhistische Tempel. Dort errichte er sich eine Grashütte auf einem abgelegenen großen Felsen, in der er jahrelang einsam meditierte. Der Fels hieß Shítóu (石头), 'Steinkopf', und er wählte auch für sich selbst diesen Namen.
Das berühmte "Lied von der Grasdach-Klause" bezieht sich auf diese Meditationshütte von Shítóu und zeigt seine große Wertschätzung für das stille und zurückgezogene Leben eines buddhistischen Bergmönchs.
Im Jahr 742 errichtete er neben dem dort auf dem Héng Shān Berg schon bestehenden Nantai Tempel (南臺寺, Nántaí Sì) einen weiteren buddhistischen Tempel, in dem er lehrte.
Der Buddhologe Mario Poceski (s.u.) schreibt, daß Shítóu zu seiner Lebenszeit in Südchina nicht sehr bekannt war, ebenso übrigends wie sein Freund und Zeitgenosse Mǎzǔ Dàoyī (馬祖道一; jap. Baso Dōitsu; 709–788). Beide wurden erst später in der Song-Dynastie (960-1279.) sehr populär, weil sich ihre Song-zeitlichen Nachfolger sehr stark auf Shítóu und Mǎzǔ bezogen.
Der Überlieferung nach lehrten diese beiden Meister Chan/Zen auf deutlich unterschiedliche Weise, aber sie schätzen einander und schickten ihre Schüler jeweils zum anderen Meister, wenn sie der Meinung waren, daß ihre Schüler davon profitieren könnten.
Shítóu starb im Jahr 790 und erhielt nach seinem Tod den Ehrennamen Wuji Dashi (無際大師), 'Grenzenloser Meister'.
 
Als Nachfolger von Shítóu Xīqiān gilt Yàoshān Wéiyǎn (藥山惟儼; jap. Yakusan Igen; 745-827), der zugleich auch ein Schüler von Mǎzǔ Dàoyī (709–788) war.
 

Zitat Wilhelm Gundert, Bi-Yän-Lu, Band 2, Beispiel 40, S. 154-155:
Der hier erwähnte buddhistische Mönch Sēngzhào (僧肇; jap. Sōjō; 384–414) war ein bedeutender Schüler und Mitarbeiter des großen Sanskrit-Chinesisch Übersetzers Kumārajīva (鳩摩羅什; 344–413). Die Namen wurden auf Pinyin geändert, eigene Einfügungen in eckige Klammern gesetzt.
 
Den entscheidenden Anstoß zu seiner eigenen Erkenntnis (sieht man von der Jugenderinnerung an Huìnéng und den Umgang mit Qīngyuán ab) hat Shítóu bei der Lektüre einer Schrift des Mönches Sēngzhào empfangen. Einst las er dessen Abhandlung "Von der Namenlosigkeit des Nirvâna" und kam an die im Text erwähnte Stelle, wo es heißt: "Wer die Welt der Dinge so versteht, daß er in diesen allen stets sich selber sieht, der dürfte wohl ein Heiliger sein." Da durchfuhr es ihn, daß er auf den Tisch schlug und sagte: Der Heilige besitzt kein eigenes Selbst, weil alles eigenes Selbst ist; wer will da noch von Ich, Du, von eigenem Selbst und einem Anderen reden! Und darauf schrieb er die Erkenntnis, die ihn erfüllte, in vierundvierzig Sätzchen zu je fünf Wortzeichen nieder, die unter dem Titel "Ungleich und gleich im Bunde" [Cāntóngqì, 參同契; jap. Sandōkai] bei den Zen-Schulen, vor allem aber bei der Sôtô-Sekte, bis heute in Ansehen stehen.
Wie Shítóu diese seine Einheitserkenntnis verstanden wissen wollte, darüber hat er sich vor seiner Hörerschaft mit folgenden Worten ausgesprochen [Jǐngdé Chuándēnglù, 景德傳燈錄, jap. Keitoku dentōroku, Taisho Tripitaka (Taisho Shinshu Daizokyoi), vol. 14.]:
"Meine Lehre vom GESETZ, die ich von früheren Buddhas überkommen habe, handelt nicht von heldenhaftem Fortschritt in Zuständen der Versenkung, sondern ich will nichts weiter erreichen als das Wissen und die Schau eines Buddha. Sie spricht sich in dem Satz aus:
Eben da, wo Herz (Bewußtsein, Geist) ist, eben da ist Buddha.
[ 即心 即佛 = jí xīn jí fó = jap. soku shin soku butsu ]

Herz, Geist, Buddha, irrende Lebewesen, erlösende Erkenntnis, Verblendung, das alles ist, wenn auch dem Namen nach verschieden, dem Wesen nach doch eines. Es gilt für euch, das eigene Herz zu erkennen, sich vom Glauben an die Dauerhaftigkeit der Dinge ebenso fernzuhalten wie von dem ans Nichts. Die Grundnatur ist weder rein noch unrein; taufrisch ist sie, rund und voll. Gemein und heilig stehen sich gleich, ihre Verwendung in der Praxis ist an keine Richtlinie gebunden. Alle drei Welten und die sechs Wege des Kreislaufs von Geburt und Tod (nämlich die der Höllenwesen, der hungernden Gespenster, Tiere, streitenden Geister, Himmelswesen) treten alle aus dem Herzen her in Erscheinung. Wenn ihr dies richtig begriffen habt, so wird es euch an nichts gebrechen. Mein einziges Bestreben ist, es so weit zu bringen, daß die urgründige Stille des Wahrheitsleibes bei euch in Herz und Sinnen Eingang finde."


Das hier vorgestellte Lehrgedicht von Shítóu "Ungleich und gleich im Bunde" [Cāntóngqì, 參同契; jap. Sandōkai], oder wie wir es hier übertragen haben "Die Harmonie von Verschiedenheit und Gleichheit", findet sich in einer Übersetzung des Autors dieser Zeilen in:
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009,
sowie in zahlreichen verschiedenen Übertragungen im Internet.
即心 即佛         jí xīn jí fó
soku shin soku butsu (jap.)
Da wo der Herz-Geist ist,
da ist der Buddha.
Privates Rollbild des Autors
von Kuwahara Sensei.
 
Nebenbei: der Autor dieser Zeilen hat mehrere Jahre mit dem obigen Wort von Shítóu in Sinne eines Genjōkōan (現成公按) nach Zen-Meisters Dōgen praktiziert.
Eine gute Quelle über Shítóu und seine Schüler ist das Werk des US-amerikanischen Buddhologen Mario Poceski, Ordinary Mind as the Way: the Hongzhou School and the Growth of Chan Buddhism, Oxford University Press, Oxford, UK, 2007.
 
Auf der ZENline von Terebess finden sich unter Shítóu Xīqiān weitere englische Texte zu Shítóu Xīqiān, so die chin.-engl. Übersetzungen von
The Record of Shitou Xiqian, transl. by James Mitchell & Yulie Lou und
'Encounter Dialogues of Shitou Xiqian' trans. by Satyavayu.
 
Shítóu Xīqiān hatte einen großen Einfluß auf den chin. Chan-Meister Hóngzhì Zhēngjué (宏智正覺; jap. Wanshi Shōgaku; 1091–1157) und dessen Lehre von der Meditation des heiter gelassenen Widerspiegelns, oder auch schweigende Erleuchtung genannt (默照禪, mò zhào chán, jap. moku shō zen, engl. serene/silent reflection contemplation). Siehe wiederum:
Taigen Dan Leighton, Das Kultivieren des Leeren Feldes, Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen, 2009.

 

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