Buddha lehrte nur Eine Sache
von
Sharon Salzberg
Eine Freundin von mir mußte einmal ihrem
4-jährigen Sohn erklären, daß das Kindermädchen, welches
seit seiner Geburt für ihn gesorgt hatte, jetzt fortziehen werde. Da
ihr Sohn sehr an dieser Person hing, erklärte sie ihm das liebevoll
und Schritt für Schritt, sagte ihm, daß das Kindermädchen
ihn liebe, daß sie sich schreiben könnten und miteinander telefonieren
und sich auch besuchen könnten, aber daß das Kindermädchen
eben jetzt fortziehen würde und bei ihrer Schwester leben würde.
Der kleine Junge hörte achtsam zu und sagte dann zu seiner Mutter:
"Mamma, erzähl mir die Geschichte noch einmal, aber mit einem anderen
Schluß."
Es gibt Zeiten in unserem Leben, wo auch wir wünschen, wir könnten
das Ende der Geschichte ändern. Manchmal verlieren wir das, was uns
am Herzen liegt, werden getrennt von jenen, die wir lieben, unsere Körper
versagen, wenn wir älter werden, wir fühlen uns hilflos oder verletzt,
oder unser Leben scheint uns zu entrinnen. Dies sind alles Aspekte von dukkha,
eine der grundlegenden Lehren des Buddha. Dukkha bedeutet Leiden,
Enttäuschung, Unzufriedenheit, Hohlheit, Wechsel.
Buddha hat gesagt: "Ich lehre 'Eines' und nur 'Eines':
Das Leiden und das Ende des Leidens.!" Leiden bezeichnet in seiner Lehre
nicht notwendigerweise schwere körperliche Schmerzen, sondern eher die
geistigen Schmerzen, die wir erfahren, wenn unsere Gewohnheit an Freude
festzuhalten mit der fließenden Natur des Lebens konfrontiert wird,
und unsere Erfahrungen unbefriedigend und unkontrollierbar werden.
Als ich zum ersten Mal in Indien war und von Buddhas Lehre über
das Leiden hörte, hatte ich das Gefühl, daß mir ein kostbares
Geschenk übergeben wurde. Endlich war da jemand, der offen darüber
sprach, wie die Dinge wirklich sind. Leiden existiert. So wie es in dieser
Welt große Freude gibt, so gibt es auch sehr viel Schmerz. Es gibt
wunderbare Zeiten des Zusammenkommens, und es gibt ebenso Zeiten der Trennung
und des Verlustes. Es gibt Geburt und ebenso den Tod. Ich hatte das Gefühl,
diese Wahrheit zum ersten Mal zu hören, eine Wahrheit, über die
niemand sonst sprechen wollte.
Wenn wir versuchen, die Tür zu dieser Wahrheit zu schließen, so
erzeugen wir Leiden. In unserer Gesellschaft ist diese Tür oft verschlossen,
da wir gelehrt werden, daß Leiden eine Schande ist. Vielleicht
schließen auch wir selbst diese Tür, da wir unser eigenes Leiden
nicht sehen wollen, oder es anderen nicht zeigen wollen.
Diese Verleugnung des Leidens geschieht oft im Leben der Familien. Manchmal
gibt es großes Leiden in einer Familie - Disharmonie, Konflikt,
Unsicherheit, Gewalt - und im Versuch, die Kinder vor dieser Wahrheit
zu schützen, senkt sich dann ein großes Schweigen herab: das Schweigen
des Leugnens und des Ausweichens. Und wenn je darüber geredet wird,
so wird das Leiden verpackt und manipuliert, so daß es wie etwas anderes
ausschaut. Wenn mit Kindern über schmerzvolle Situationen geredet wird,
so ist eine geschickte und angemessene Kommunikation gefordert, da die Kinder
ja meist sehr wohl fühlen, was wirklich vor sich geht. Aber wenn das,
was ein Kind fühlt, nicht von außen bestätigt wird, entsteht
in ihm eine Spaltung - ein Konflikt zwischen dem, was dem Kind erzählt
wird und dem, was es intuitiv als wahr erkennt. So lernen die Kinder, nicht
sich selbst, sondern nur ihren Eltern zu vertrauen. Wegen Verhaltensmustern
wie diesem ist es für alle Beteiligten eine außerordentliche
Befreiung, wenn die Wahrheit vom Leiden anerkannt wird.
Aber der Buddha lehrte nicht nur das Leiden, er lehrte auch das Ende des
Leidens. Als einer meiner Freunde diesen berühmten Satz des Buddha,
daß er nur 'Eines' lehre, hörte, bemerkte er: "Leiden
und das Ende des Leidens sind doch zwei Dinge, und nicht Eines." Von
einem Standpunkt aus sind es offensichtlich zwei verschiedene Sachen -
entweder wir leiden, oder wir sind frei davon. Wir kennen ja den Unterschied
in unserem Körper, in unserem Herz, im Mark unserer Knochen. Wenn wir
aber tiefer in diese Lehre schauen, enthüllt sich uns ihre Einheit.
Denn in jeder Erfahrung, selbst in einer schmerzlichen, können wir das
Ende des Leidens finden - genau im Herzen dieses Momentes.
Doch wie können wir im direkten Kontakt mit dem Leidens, wenn wir nicht
in der Lage sind, "das Ende der Geschichte" zu ändern, wie
können wir dann das Leiden beenden? Dies ist eine der schwierigsten
Situationen, der wir im Leben begegnen können. Wir beginnen damit, den
Schmerz nicht zu leugnen und die Wahrheit vom Leiden anzuerkennen. Wir
resignieren nicht oder werden apathisch; wir schauen in das Leiden und entdecken
so die große Fähigkeit unseres Herzens, alle Aspekte des Lebens
in unser Gewahrsein einzuschließen. Wenn wir diese Größe
unseres Herzens erfahren, so erkennen wir, daß es häufig nicht
der Schmerz selbst ist, den wir als so unnatürlich und grausam empfinden,
sondern mehr die Einsamkeit des sich im Schmerz alleingelassen Fühlens.
Aber wenn wir uns dem voll öffnen, wird es möglich, eine essentielle
Wahrheit über das Leben selbst zu berühren: Leiden in der einen
oder anderen Weise ist ein natürlicher Teil der Existenz. Das Wissen
um diese Wahrheit gibt unserem Leben Ganzheit und Frieden, es befreit uns
von all diesen so erschöpfenden Schauspielereien und Lügen. Manchmal,
wenn wir für das Leiden offen sind und seine Wurzeln sehen, erkennen
wir auch klar, welche Handlungen das Leidern erleichtern könnten. Zum
Beispiel litt der junge Sohn meiner Freundin sehr viel weniger aufgrund der
Fürsorge und Unterstützung seiner Mutter.
Als ich noch bei meinem Lehrer U Pandita war, sagte ich unzählige Male
zu ihm: "Es geht mir wirklich schlecht. Meine Knie schmerzen, mein
Rücken schmerzt, mein Geist wandert überall herum; ich kann nicht
praktizieren." So viele Male hörte er mir zu und antwortete dann
einfach: "Das ist dukkha, nicht wahr?" Wieder und wieder saß
ich vor ihm, schaute ihn mit enormer Erwartung an, wartete darauf, daß
er eine magische Lösung vorschlug - irgendetwas, damit die
Schwierigkeiten weggehen würden. Und wie ich so voller Hoffnung und
Furcht wartete, antwortete er einfach: "Das ist dukkha, nicht wahr?"
Anfangs war das enttäuschend, doch mit der Zeit wurde U Panditas
Antwort sehr befreiend für mich. Nichts, was ich tun oder ändern
könnte, ließ sich vergleichen mit der Kraft und Freiheit dieses
unmittelbaren Gewahrseins des offenen Herzens: "Das ist dukkha."
Letztlich führten mich U Panditas Worte zum Verständnis,
daß meine Schwierigkeiten nicht einfach nur ein persönliches Drama
waren, sondern eine Öffnung hin zu einem wahren Aspekt des Lebens. Das
Leiden muß gesehen und anerkannt werden, nicht um darin zu versinken
oder verloren zu gehen, sondern um offener für die Wahrheit und für
alle Wesen zu werden.
Es gibt Zeiten, wo wir "das Ende der Geschichte" nicht ändern
können, wo wir nichts machen können, damit das Leiden weggeht.
Aber dieses Ende verändert sich auf eine natürliche Weise, indem
wir uns der Wirklichkeit vor uns mit Achtsamkeit und Mitgefühl verbinden.
Dies ist die 'Eine Lehre' des Buddha: die Wahrheit vom Leiden ist
zugleich der Weg zum Ende des Leidens.
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