Das Lied vom Kostbaren Spiegel-Samadhi

寶鏡三昧歌

Băojìng Sānmèigē
Pao-ching San-mei-ko (Wade-Giles)
Hōkyō Zanmaika (jap.)
 
von Chán-Meister Dòngshān Liángjìa (807-869)
  洞山良价  
Tung-shan Liang-chieh (Wade-Giles)
Tōzan Ryōkai (jap.)


Deutsche Übertragung des "Liedes vom Kostbaren Spiegel-Samadhi" von Munish B. Schiekel, auf der Basis der englischen Übersetzung des amerikanischen Sōtō-School Liturgy Projects (Sōtō Shu Shumucho [SSS], mit Carl Bielefeldt, Griffith Foulk, Taigen Leighton, Shohaku Okumura, u.a.), unter Heranziehung der hier angeführten chinesisch-japanischen Textfassung.
 
Im Anhang eine Einführung in das Leben von Chan-Meister Dongshan Liangjia von Munish B. Schiekel.
 
Version 0.29 vom 10.03.2009.
 
©opyright:    M.B. Schiekel, April 2007-2009, D-89073 Ulm.
Der Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Übersetzers.

Kontext:

Der Chán-Meister Dòngshān Liángjìa (jap. Tōzan Ryōkai), 807-869, gilt als der Gründer der Cáodòng-Chán-Schule (jap. Sōtō-Zen-Schule). Sein Schüler Cáoshān Běnjì (jap. Sôzan Honjaku), 840-901, hat die Lehren und Gedichte seines Meister in dem Text 'Die Aufzeichnungen von Dòngshān' (Dòngshān Lù) gesammelt und herausgegeben. Alle späteren Sammlungen, in denen Dòngshān erwähnt wird, beziehen sich auf Cáoshān's 'Die Aufzeichnungen von Dòngshān', insbesondere die Beispiele in:

  • Bìyán Lù (jap. Hekigan-roku): 43,
  • Cóngróng Lù (jap. Shōyō-roku): 22,49,56,89,94,98,
  • Denkō-roku (jap): 39,40.

Eine neuere und umfangreichere Zusammenstellung mit dem Titel 'Die Aufzeichnungen der Worte von Chán-Meister Dòngshān Liángjìa' (Dòngshān Liángjìa Chánshi Yìlù) stammt von dem buddhistischen Mönch Yuanxin (1571-1646).

Das hier folgende 'Lied vom Kostbaren Spiegel-Samadhi' (Băojìng Sānmèigē) schenkte Meister Dòngshān seinem Schüler Cáoshān bei dessen Abschied und wurde von diesem überliefert.

寶鏡三昧歌 Das Lied vom Kostbaren Spiegel-Samadhi
 
1. 如是之法 佛祖密附 Das Dharma der Soheit wurde von den Buddhas
und Dharmavorfahren direkt übertragen;
 
2. 汝今得之 宜能保護 Jetzt, da du es erhalten hast,
bewahre es gut.
 
3. 銀碗盛雪 明月藏鷺 Eine silberne Schale gefüllt mit Schnee,
ein Reiher, verborgen im Mond.
 
4. 類而不斉 混則知處 Sie scheinen ähnlich und sind doch nicht gleich,
ununterschieden und doch an ihren jeweiligen Plätzen.
 
5. 意不在言 來機亦赴 Der Sinn findet sich nicht in den Worten,
aber ein lebendiger Augenblick bringt ihn hervor.
 
6. 動成窠臼 差落顧佇 Geh darauf zu und du gehst in die Falle,
geh daran vorbei und du fällst in Zweifel und Schwanken.
 
7. 背觸共非 如大火聚 Dich abzuwenden ist ebenso falsch, wie daran festzuhalten,
denn es ist wie ein großes Feuer.
 
8. 但形文彩 即屬染汚 Selbst wenn du es literarisch darstellen willst,
so verunreinigst du es doch nur.
 
9. 夜半正明 天曉不露 In der dunkelsten Nacht scheint es vollkommen klar,
im Licht der Morgendämmerung ist es verborgen.
 
10. 爲物作則 用抜諸苦 Es ist das Prinzip in allen Dingen,
und seine Anwendung überwindet alles Leiden.
 
11. 雖非有爲 不是無語 Obwohl es nicht gestaltet ist,
ist es doch nicht jenseits der Worte.
 
12. 如臨寶鏡 形影相覩 Wie beim Blick in einen kostbaren Spiegel,
sehen Form und Bild einander an.
 
13. 汝是非渠 渠正是汝 Du bist nicht es,
und doch ist es wirklich du.
 
14. 如世嬰児 五相完具 Wie ein Säugling ist es ausgestattet
mit den fünf Aspekten (Skandhas):
 
15. 不去不來 不起不住 Kein Kommen, kein Gehen,
kein Entstehen, kein Vergehen;
 
16. 婆婆和和 有句無句 „Baba wawa“ -
wurde hiermit etwas gesagt, oder nicht?
 
17. 終不得物 語未正故 Letztlich sagt dies nichts,
da die Worte noch nicht richtig sind.
 
18. 重離六爻 偏正回互 In dem Hexagramm 'doppeltes Feuer' (Li-Li)
wirken die sich neigenden mit den aufrecht-geraden Linien im Wechsel,
 
19. 疊而成三 變盡爲五 Übereinander gelegt ergeben sich drei (Trigramme),
mit fünf verschiedenen Ordnungen,
 
20. 如茎草味 如金剛杵 Wie der Duft des fünffach schmeckenden Krautes,
wie der fünfarmige Vajra.
 
21. 正中妙挾 敲唱雙舉 Wundersam umfangen von der Wirklichkeit,
beginnt das Trommeln und Singen zugleich.
 
22. 通宗通途 挾帯挾路 Dringe vor zur Quelle und gehe den Weg,
umfasse das Land und bewahre den Weg.
 
23. 錯然則吉 不可犯忤 Du tust gut daran, dies zu beachten,
sei nicht nachlässig damit.
 
24. 天眞而妙 不屬迷悟 Natürlich und wundersam,
es ist keine Frage von Verblendung oder Erleuchtung.
 
25. 因縁時節 寂然昭著 Inmitten aller Ursachen, Bedingungen und Zeiten
ist es heiter gelassen und leuchtend.
 
26. 細入無間 大絶方所 So fein ist es, daß es selbst dort eintritt, wo kein Spalt ist,
so unermeßlich weit, daß es den Raum überschreitet.
 
27. 毫忽之差 不應律呂 Weichst du um Haaresbreite ab,
geht der Einklang verloren.
 
28. 今有頓漸 縁立宗趣 Jetzt gibt es (Schulen) des plötzlichen und des stufenweisen
(Erwachens), und Lehren und Übungsmethoden entstehen.
 
29. 宗趣分矣 即是規矩 Wenn Lehren und Übungsmethoden unterschieden werden,
dann hat eine jede ihre Maßstäbe.
 
30. 宗通趣極 眞常流注 Doch ob die Lehren und Übungsmethoden gemeistert werden
oder nicht, unablässig fließt die Wirklichkeit.
 
31. 外寂内搖 繋駒伏鼠 Äußerlich still, doch innerlich zitternd,
wie angebundene Fohlen oder sich versteckende Ratten,
 
32. 先聖悲之 爲法檀度 Die alten Weisen fühlten mit ihnen mit
und boten ihnen das Dharma an.
 
33. 隨其顛倒 以緇爲素 Von ihrer verdrehten Sicht geleitet
halten die Leute Schwarz für Weiß.
 
34. 顛倒想滅 肯心自許 Wenn das verdrehte Denken anhält,
ist der offene Geist in einer natürlichen Übereinstimmung.
 
35. 要合古轍 請觀前古 Wenn du den alten Wegen folgen willst,
so halte dich an die alten Weisen.
 
36. 佛道垂成 十劫觀樹 Einer unterwegs zur Vollendung des Buddhaweges
meditierte zehn Kalpas unter einem Baum,
 
37. 如虎之缺 如馬之馵 Wie ein kampferprobter Tiger,
wie ein Pferd mit ergrauten Fersen.
 
38. 以有下劣 寶几珍御 Manche Menschen sind gering, für sie
die juwelenverzierten Tische und die ornamentbesetzten Roben;
 
39. 以有驚異 狸奴白牯 Manche Menschen sind anders und haben offene Augen, für sie
eine Katze und eine Kuh.
 
40. 藝以巧力 射中百歩 Mit seiner Geschicklichkeit im Bogenschießen
traf Yi das Ziel auf hundert Schritte,
 
41. 箭鋒相値 巧力何預 Doch wenn Pfeile sich (im Flug) treffen,
wie könnte das eine Frage von Geschicklichkeit sein?
 
42. 木人方歌 石女起舞 Der hölzerne Mann beginnt zu singen,
und das steinerne Mädchen fängt an zu tanzen.
 
43. 非情識到 寧容思慮 Es wird weder von Gefühlen noch vom Wissen erreicht,
wie könnte es dem Nachdenken zugänglich sein?
 
44. 臣奉於君 子順於父 Minister dienen ihren Herrschern,
Kinder folgen ihren Eltern.
 
45. 不順不孝 不奉非輔 Nicht zu folgen ist respektlos,
nicht zu dienen ist nutzlos.
 
46. 潛行密用 如愚如魯 Übe im Verborgenen, wirke im Geheimen,
wie ein Narr, wie ein Dummkopf;
 
47. 只能相續 名主中主 Einfach in dieser Weise fortzufahren,
das nennt man den Hausherrn im Hausherrn (erkennen).
 
Anmerkungen:
 
Zeile 3: 'Schnee' und 'Reiher' stehen für Form, 'silberne Schale' und Mond für Leerheit = Soheit.
 
Zeile 14: die '5 Aspekte' sind die 5 Skandhas (Körper/Form, Empfindung, Wahrnehmung, geistig-psychische Reaktion, Bewußtsein. So, wie ein Säugling schon von der Geburt an alle 5 Skandhas mitbringt, so sind wir alle bereits von Geburt an mit der Buddha-Natur ausgestattet.
 
Zeile 18: das Hexagramm 30 des I-Ging (Yì jīng, 易经 / 易經 ) ist lí ( 離 ) = "Feuer" und enthält oben und unten das gleiche das Trigramm lí ( 離 ) = frei von / losgelöst / strahlend : ☲+☲ . Shindo Gensho zitiert in seinem Kommentar, siehe [HG], Lu K'uan Yu (Charles Luk) mit der Aussage, daß dieses Hexagramm lí im Chan oft für 'Wirklichkeit' steht, für die 'absolute Ebene', im chinesischen oft auch 'Essenz' oder 'Prinzip' genannt.
Im Gegensatz und in Ergänzung dazu steht das Hexagramm 61 des I-Ging, zhōng fú ( 中孚 ) = innere Wahrheit, und dieses enthält oben das Trigramm xùn ( 巽 ) = der Wind / das Sanfte / das Nachgiebige / in Übereinstimmung sein, und unten das Trigramm dùi ( 兌 ) = das Offene / das Heitere / der See: ☴+☱ , Wiederum nach Lu K'uan Yu steht dieses Zeichen im Chan häufig für die 'relative Ebene', im chinesischen oft auch 'Funktion' oder 'Praxis' genannt.
 
Zeile 19: Aus lí ( 離 ): ☲ , frei von / losgelöst / strahlend, und aus xùn ( 巽 ): ☴ , der Wind / das Sanfte / das Nachgiebige / in Übereinstimmung sein und aus dùi ( 兌 ) = das Offene / das Heitere / der See: ☱ , lassen sich die fünf 'Standorte' oder 'Ordnungen' (wŭwèi, 五位 , jap. go-i) von Meister Dòngshān Liángjìa zusammensetzen:
"mitten aus dem Richtigen kommend" (Hausherr) ☴ ; "mitten ins Einseitige hineingegangen" (Gast) ☱ ; "mitten im Richtigen das Einseitige" (Hausherr kommt ins Licht) ☱+☴ ; "mitten im Einseitigen das Richtige" (Gast kehrt zurück zum Hausherrn) ☴+☱ ; "in der Verbindung beider angelangt" (Hausherr im Hausherrn) ☲+☲ .
 
Zeile 21: Das 'Trommeln und Singen' steht für die innige wechselseitige Verbundenheit zwischen Lehrer und Schüler ebenso wie für die Beziehung zwischen Form und Leere.
 
Zeile 37: Dieses Bild interpretieren und übersetzen [NST] und [NST-B] mit:
"wie ein Tiger, der seine Beute nicht restlos verschlingt,
wie ein Pferd, dem das linke Hufeisen fehlt."
 
Zeile 39: Unsere Vorlage [SSS] liest für 狸 = lí = Katze, während [HG] hier Waschbär vorschlägt.
 
Zeile 41: [HG] liest: wozu braucht es dann noch Geschicklichkeit und Kraft?
(d.h. nach dem Erwachen).
 
Zeile 42: Der 'hölzerne Mann' steht wiederum für die Form, die 'relative Ebene', das 'steinerne Mädchen' (bzw. die 'Jadefrau') für die Soheit, die 'absolute Ebene'.
Stein und Holz tauchen in Chan-Texten häufig in einem Zusammenhang mit der Beruhigung der Geistesaktivität auf: so zitiert Baizhang Huaihai (720-814, also zeitlich vor Dongshan) an einer Stelle Bodhidharma mit den Worten: "Der Geist sollte (frei von Gedanken und Empfindungen) sein wie Holz und Stein." (siehe: Zen Quotations, Zen Sayings.)
 

Eine kleine Einführung in das Leben von Meister Dongshan,
     mit einem Nachsatz zum Leben des jap. Sōtō-Zen Mönchs Shoun.

Der Chan-Meister Dongshan Liangjia (jap. Tōzan Ryōkai), 807-869, gilt als der Gründer der Caodong-Chan-Schule (jap. Sōtō-Zen-Schule). Der spätere Mönch Liangjia wurde bereits mit sechs Jahren von seiner frommen Mutter zur Ausbildung einem örtlichen buddhistischen Mönch der Vinaya-Schule zur Erziehung übergeben. Dieser erkannte die außergewöhnliche Begabung und Tiefe des jungen Novizen und brachte ihn nach einiger Zeit mit dem Einverständnis der Eltern zu dem angesehenen Chan-Meister Ling-mo (746-818), einem Schüler der berühmten Chan-Meister Mazu und Shitou. Der ernste und gütige Meister Ling-mo beeindruckte den jungen Novizen so sehr, daß dieser sich mit 21 Jahren zum Mönchsleben entschloß. Danach wanderte Liangjia viele Jahre durch ganz China und besuchte viele Chan-Meister seiner Zeit, darunter Nanquan Puyuan, Guishan Lingyou (Weshan Lingyou) und schließlich Yunyan Tansheng, dessen enger Schüler er wurde.
Bei Meister Weshan hörte Liangjia den Satz: "Auch die nichtfühlende Natur verkündet das Dharma - nur trifft sie selten einen Menschen, der es vernimmt." Dieser Satz und die damit verbundene Frage nach der 'Buddhanatur' und dem 'Erwachen', ließen Liangjia nicht mehr los und wurden ihm zur zentralen Lebensfrage. In der Chan-/Zen-Tradition nennt man eine solche tiefe Frage ein Gōng'àn (公案 , jap. kōan), wobei die wörtliche Bedeutung von Gōng'àn, nämlich 'öffentlicher Aushang', schon darauf hinweist, daß dieses 'Erwachen' nichts Verborgenes oder weit Entferntes ist, sondern uns unmittelbar vor Augen liegt und es nur unser verblendetes Wahrnehmen, Denken und Fühlen sind, die uns vom Erwachen trennen und uns im Leiden gefangen halten.
Erst bei Meister Yunyan löste sich für Liangjia dieser Knoten in seinem Herzen und er erfuhr zum ersten Mal die tiefe Freude des unmittelbaren Verstehens.

Eindrücklich ist auch das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler beim Abschied von Liangjia (Quelle: Dumoulin, H.: Geschichte des Zen-Buddhismus, Band I und Denkõ-roku, hier leicht modifiziert):

Yunyan fragte: "Wann wirst Du hierher zurückkehren?" Liangjia antwortete: "Wenn der Ehrwürdige Meister eine Wohnung hat, will ich kommen." Darauf Yunyan: "Wenn Du einmal gegangen bist, wird es schwierig sein, nochmals einander zu begegnen." Liangjia erwiderte: "Es wird schwierig sein, einander nicht zu begegnen."
Dann fragte Liangjia den Meister: "Wenn jemand hundert Jahre nach dem Tode des Meisters mich fragte: 'Kannst Du ein Portrait des Meisters malen?', was soll ich ihm antworten?" Yunyan verblieb für eine längere Zeit im Schweigen und sagte dann: "Einfach Dies." ("Just this is it.") Liangjia war in Meditation versunken und Yunyan fügte hinzu: "Ehrwürdiger Jia, jetzt, wo Du diese Sache aufgenommen hast, solltest Du sehr achtsam und sorgfältig damit sein."

Als Liangjia kurz darauf auf seiner Wanderung durch einen Fluß watete und sein Spiegelbild im Wasser erblickte, erlebte er ein noch tieferes Erwachen und beschrieb diese Erfahrung in seinem berühmten Findelied (Quelle: Denkõ-roku, hier leicht modifiziert):

Suche nicht bei Anderen,
oder du wirst dich dir selbst entfremden.
Nun gehe ich alleine -
doch überall begegne ich Ihm.
Jetzt ist Es ich,
doch jetzt bin ich nicht Es.
So muß man dies verstehen
um eins zu sein mit Soheit.

Liangjia wanderte dann noch fast zwanzig Jahre durch ganz Südchina, insbesondere durch die Provinzen um den Jangtse-Fluß, bevor er als Abt zunächst im Xinfengshan Kloster und später noch neun Jahre im Dongshan Kloster lehrte. Er war ein ruhiger und doch kraftvoller Lehrer, der seine Schüler in die Stille führte und mit wenigen, tiefen Worten auf dem Weg anleitete.
Dongshan's Lebensgeschichte ist sehr schön von Wilhelm Gundert in seiner Übertragung des 43. Beispiels des Bi-Yän-Lu beschrieben. Weil diese Geschichte sehr eindrücklich die Art von Dongshan's Lehrweise zeigt und darüber hinaus für alle Übenden des Weges wirklich wichtig ist, sei sie hier wiedergegeben (Quelle: Gundert, Bi-Yän-Lu, hier leicht modifiziert):

Ein Mönch fragte Dongshan: "Wenn Kälte oder Hitze kommt, wie weicht man ihnen aus?"
Dongshan erwiderte: "Warum wendest du dich nicht einem Orte zu, an dem es keine Kälte oder Hitze gibt?"
Der Mönch fragte: "Was ist das für ein Ort, an dem es keine Kälte oder Hitze gibt?"
Dongshan erwiderte: "Das ist der Ort, wo, wenn es kalt ist, dich die Kälte umbringt, und wo, wenn es warm ist, dich die Hitze umbringt."

Ein zentrales Thema in Dongshans Leben und Lehren war die Wechselwirkung zwischen der 'absoluten' und der 'relativen' Ebene der Wirklichkeit und ihre letztliche Einheit. Diese Frage zieht sich durch sämtliche Praxis-Methoden und philosophischen Reflektionen des Mahayana-Buddhismus. Nagarjuna spricht von der Einheit von 'Nirvana' und 'Samsara', der Daoismus und der frühe chinesische Buddhismus orientieren sich an den Begriffen 'Essenz' (tĭ, 體 , wörtl. Körper, Form, System) und 'Funktion' (yòng, 用 , wörtl. Gebrauch, Anwendung) und die buddhistische Huayen-Schule verwendet als einen Schlüsselsatz 'lĭ shì wú ài' ( 理 事 毋 礙 ), 'Prinzip und Erscheinungen behindern einander nicht', oder 'zwischen Prinzip und Erscheinung gibt es keine Grenze' - mit 'Prinzip' (lĭ, 理 ) und 'Erscheinung, Ding' (shì, 事 ). Bodhidharma lehrt die beiden Zugänge zum Weg (dào, 道 ) über das 'Prinzip' (lĭ, 理 ) und die 'Praxis (Verhalten/Ethik)' (xìng, 行 ) und Dongshan schließlich spricht von 'gerade/aufrecht/richtig/Prinzip' (zhèng, 正 ) und gekrümmt/sich neigend/einseitig (piān, 偏 ).
Dongshans Vorstellungen zu diesem Thema wurden von seinem Schüler Caoshan zu der Lehre der fünf Standorte/Stufen/Grade (wŭwèi, 五位 , jap. go-i) ausgebaut, die nicht nur im japanischen Sōtō-Zen, sondern seit Hakuin auch im japanischen Rinzai-Zen vertieft studiert werden.

Ein wichtiges Ergebnis in C.G. Jungs Untersuchungen des menschlichen Geistes ist der Hinweis auf den 'Schatten' in unserem Geist, auf die dunklen und verdrängten Geistesformationen, die sich sowohl individuell als auch kollektiv manifestieren können. Ein sehr trauriges Ereignis im Leben von Dongshan mag uns Anlaß bieten, unseren persönlichen 'Schatten' und vielleicht auch einen kollektiven 'Schatten' der Chan-/Zen-Tradition (oder anderer buddhistischer Traditionen) etwas tiefer zu reflektieren. Die folgende Geschichte stammt aus dem Denkõroku.

Dongshan hatte als junger Mönch ein Gelübde der Entsagung abgelegt, sein Elternhaus und seine nahen Verwandten nicht mehr zu sehen. Als Jahrzehnte später Dongshans Mutter alt und krank wurde und gezwungen war, sich ihr Essen als heimatlose Bettlerin auf der Straße zu erbitten (wie viele alte Frauen in dieser Zeit), suchte sie lange nach ihrem geliebten Sohn und fand diesen schließlich als berühmten Abt im Kloster auf dem Dongshan. Meister Dongshan verweigerte jedoch strikt eine Begegnung mit seiner Mutter und schloß sich in seinem Zimmer ein. Schließlich starb seine Mutter an gebrochenem Herzen vor Dongshans Tür. Nach ihrem Tod kam Dongshan wieder aus seinem Zimmer heraus, fand in den Habseligkeiten der Mutter etwas erbettelten Reis, welchen er seinen Mönchen am nächsten Morgen als eine Opfergabe seiner Mutter in den Morgenbrei mischte, um der Mutter eine gute Wiedergeburt zu ermöglichen. Kurze Zeit darauf hatte Dongshan einen Traum, daß seine Mutter im Tryastrimsha-Himmel wiedergeboren sei.

Bei Geschichten wie diesen denke ich manchmal, daß die Chan-/Zen-Übenden vielleicht doch gut daran täten, nicht nur die meditative Versenkung zu vertiefen und von der Einheit der 'absoluten' und der 'relativen' Ebene der Wirklichkeit zu reden, sondern vielleicht auch der Entwicklung von 'Liebender Güte' (Metta) und 'Mitgefühl' (Karuna) mehr Aufmerksamkeit schenken könnten, so wie der Buddha dies ja allen Menschen wieder und wieder empfohlen hatte.
Zugleich zeigt das tragische Ereignis der Begegnung von Dongshan mit seiner Mutter aber auch sehr deutlich, daß 'Erwachen' kein einmaliges Ereignis und kein Besitz ist, den man getrost nach Hause tragen könnte und welcher all unsere neurotischen Gewohnheitsmuster augenblicklich und wundersam auflösen würde. Zu diesem Themenkreis sei allen Übenden, die es noch nicht studiert haben, das erhellende und heilende Buch von Jack Kornfield: "Das Tor des Erwachens" empfohlen.


Als Nachklang sei ein ganz gegensätzliches Beispiel aus der japanischen Sōtō-Zen-Schule angeführt, die Geschichte vom Mönch Shoun und seiner Mutter (Quelle: Paul Reps (und Nyogen Senzaki Roshi), Ohne Worte, ohne Schweigen - hier leicht gekürzt):

Shoun wurde ein Lehrer des Zen. Als er noch ein Zen-Schüler war, starb sein Vater und hinterließ ihm die Sorge für seine alte Mutter.
Wann immer Shoun in die Meditationshalle ging, nahm er seine Mutter mit. Begleitete sie ihn jedoch, wenn er Klöster besuchte, so konnte er nicht mit den Mönchen leben. So wollte er eine kleine Hütte bauen und dort für sie sorgen. Er kopierte Sutras, buddhistische Verse, und erhielt auf diese Weise ein wenig Geld für Nahrungsmittel.
Wenn Shoun für seine Mutter Fisch einkaufte, so verhöhnten ihn die Leute, denn ein Mönch darf keinen Fisch essen. Aber Shoun machte sich nichts daraus. Seine Mutter jedoch schmerzte es, wenn sie die anderen über ihren Sohn lachen sah. Schließlich sagte sie zu Shoun: "Ich denke, ich werde Nonne. Ich kann auch Vegetarier sein." So tat sie, und sie lernten gemeinsam.
Shoun liebte die Musik und war ein Meister der Harfe (vermutl. Koto, Anm. d. Übers.), die auch seine Mutter spielte. An Vollmondnächten pflegten sie gemeinsam zu spielen.
...
Eines Tages reiste Shoun zu einem entfernten Tempel, um dort zu unterrichten. Einige Monate später kehrte er nachHause zurück und fand seine Mutter nicht mehr am Leben. Seine Freunde hatten nicht gewußt, wo er zu erreichen war, und so wurde die Bestattung eben vollzogen.
Shoun ging ins Haus und schlug mit seinem Stab an den Sarg, "Mutter, dein Sohn ist wieder da", sagte er.
"Ich freue mich, daß du wieder da bist, Sohn", antwortete er für seine Mutter.
"Ja, ich freue mich auch", erwiderte Shoun. Dann wandte er sich an die Leute um ihn herum. "Die Bestattungszeremonie ist vorrüber. Ihr könnt den Körper verbrennen."
Als Shoun alt war, wußte er, daß sein Ende sich näherte. Er bat seine Schüler, sich am Morgen um ihn zu versammeln und erklärte ihnen, daß er am Mittag von ihnen gehen würde. Er verbrannte Weihrauch vor den Bildern seiner Mutter und seines alten Lehrers und schrieb ein Gedicht:

Sechsundfünfzig Jahre lang lebte ich, so gut ich konnte,
und ging meinen Weg durch diese Welt.
Nun hat der Regen aufgehört, die Wolken lichten sich,
der blaue Himmel hat einen vollen Mond.

Die Schüler scharten sich um ihn und rezitierten ein Sutra und Shoun verschied während der Anrufung.
 


Doch zurück zu Meister Dongshan Liangjia, der einer der einflußreichsten Chan-Meister seiner Zeit war. Dongshan engagierte sich sehr für die Ausbildung aller seiner Schüler, sei es im direkten Gespräch, sei es in der Anleitung und Begleitung der Meditation des 'Heiter-gelassenen Widerspiegelns' (engl. 'serene/silent reflection/illumination', chin. 默照 , mò zhào, jap. moku shō). Da Dongshan selbst in seinem Leben immer ein sehr freier und unabhängiger Geist war, betonte er auch in seinem Lehren die Elemente der Freiheit und Selbstverantwortung. Viele Schüler kamen aus ganz China und schlossen sich ihm an und die alten Chroniken nennen sechsundzwanzig seiner Schüler als erwachte Dharmanachfolger.
Neben Caoshan, der mit seiner umfassenden klassischen chinesischen Bildung die Weitergabe der Worte des Meisters übernahm, sind besonders wichtig Yunju Daoying, der sehr viele Jahre bei Dongshan verbrachte und ihm innerlich vielleicht am nächsten stand. Yunju betonte die Meditationspraxis und leitete später selbst eine Gemeinschaft mit eintausendfünfhundert Schülern. Zu erwähnen ist auch noch, daß der bedeutende Chan-Meister Xuefeng Yicun, obwohl kein direkter Schüler von Dongshan, diesen doch neunmal besucht hatte und sich ihm innig verbunden fühlte.

An einem Tag im Jahr 869 ließ sich Dongshan den Kopf rasieren, zog sein Abtsgewand an, ließ die große Glocke anschlagen, nahm vor der Versammlung seiner vielen Schüler Abschied und verhüllte auf seinem Sitz das Haupt als Zeichen, daß er jetzt sterben wolle. Viele Schüler brachen in lautes Weinen und Schluchzen aus. Da schlug Dongshan die Verhüllung wieder auf und sagte:

"Die ganze Übung eines Mönchs, der das Vaterhaus verlassen hat, zielt letztlich nur darauf, an nichts das Herz zu hängen. Daß man im Leben Müh und Arbeit hat, im Tod aber Ruhe findet, was ist daran zu betrauern?"

Darauf ordnete Dongshan ein siebentägiges 'Trauer-Retreat' an und erließ die Regel, daß künftig beim Abschied eines Meisters derartiger Aufruhr und Lärm verboten seien. Am Morgen des achten Tages nahm Dongshan noch ein Bad, setzte sich still hin zur Versenkung und war alsbald verschieden.
(Quelle: Gundert, Bi-Yän-Lu).

Quellen:
  • Es wurde für chinesische Namen die Pinyin-Transkription verwendet. Die entsprechenden Personen-Namen in der Wade-Giles-Transkription oder jap. Romaji finden sich z.B. bei:
    M.B. Schiekel, Einige chinesische Chan-Meister / Zen-Meister der Tang- und Sung-Zeit .
     
  • Dòngshān Lù, 洞山録, Die Aufzeichnungen von Dòngshān, Taisho Tripitaka (Taisho Shinshu Daizokyoi) 47.508b2-4.
     
  • Die Aufzeichnungen der Worte von Chán-Meister Dòngshān Liángjìa,
    Dòngshān Liángjìa Chánshī Yìlù, 洞山良价禪師語録 ,
    Tung-shan Ch'an-shih Liang-chieh Yü-lu,
    Tõzan Ryõkai Zenji Goroku (jap.),
    in: Dainihon Zokuzõkyõ, vol. 2 No. 24 大日本續藏經 .
     
  • William F. Powell, trans.,
    The Record of Tung-shan.
    Honolulu: University of Hawaii Press, 1986.
     
  • Song of Precious Mirror Samadhi ,
    chinesischer und japanischer Text, englische Übersetzung des Sōtō-School Liturgy Projects [SSS] und englische Übersetzung von John Neatrour, Sheng-yen und Kaz Tanahashi [NST], Biographie von Meister Dòngshān Liángjìa.
     
  • Hokyo Zanmai ,
    japanischer Text und englische Übersetzung von Graham Healey und Shindo Gensho (Richard Jones) mit ausführlichen Kommentaren von Shindo Gensho [HG].
     
  • Das Lied vom Juwelenspiegel-Samadhi ,
    deutsche Übertragung von Sogen Ralf Boeck,
    auf der Basis der englischen Übersetzung von John Neatrour, Sheng-yen und Kaz Tanahashi [NST-B].
     
  • Chung-Yuan Chang, Zen,
    W. Krüger Verlag, Frankfurt/Main, 2000.
    (insb. Zweiter Teil: Die gegenseitige Durchdringung des Allgemeinen und des Besonderen; Dong-shan Liang-jie; Cao-shan Ben-ji).
     
  • Isshū Miura, Ruth Fuller Sasaki, The Zen Koan,
    Harcourt Brace & Company, New York, 1965.
    (insb. für die Go-i, die fünf Ränge von Tozan, aus Sicht der Rinzai-Tradition).
     
  • Wu Keng Chuan (jap. Go-i), The Five Degrees of Tozan , Ciolek - WWWVL.
     
  • Keizan Zenji, The Denkōroku or The Record of the Transmission of the Light,
    Shasta Abbey, Mount Shasta, 1993.
     
  • Dumoulin, H.: Geschichte des Zen-Buddhismus, Band I: Indien und China,
    Francke Verlag, Bern, 1985.
     
  • Gundert, W., Bi-Yän-Lu,
    Ullstein, Frankfurt a.M., 1983.
     
  • Sekida, K., Two Zen Classics,
    Weatherhill, New York, 1977.
     
  • Zen Sayings (from "Zenrin Kushū", 禪林句集 ) .
     
  • Zen Quotations & Related Buddhist Texts (from Frank F.) .
     
  • Paul Reps (und Nyogen Senzaki Roshi), Ohne Worte, ohne Schweigen,
    Scherz Verlag, Bern, 1980.
     
  • Jack Kornfield, Das Tor des Erwachens,
    Ullstein, Berlin, 2004.
     

Dies wurde übersetzt und geschrieben im Frühjahr 2007, in einer Zeit zwischen schweren Erkrankungen und äußerst belastenden medizinischen Behandlungen, die gelegentlich an die Grenze von Leben und Tod führten. So habe ich diese Arbeit in erster Linie durchgeführt, um meinem Herzen eine Freude zu bereiten und mich vor allen Buddhas und Bodhisattvas zu verbeugen. Für alle Fehler in dieser Arbeit aufgrund meiner zahlreichen Unzulänglichkeiten bitte ich alle Leserinnen und Leser um Entschuldigung. Möge dies dennoch segensreich sein. MBS, Ulm, April 2007.

MÖGEN ALLE WESEN GLÜCKLICH SEIN!

 

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