Einige moderne Stimmen zu Nâgârjuna
 

- Karl Jaspers
- Alan W. Watts
- Thich Nhat Hanh

Zitat: Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Band I,
'Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker' -
Kapitel Nâgârjuna, S.336, 338-339,
Piper Verlag, München, 1957.

Man kann den Sinn dieses Denkens (von Nâgârjuna) auch so aussprechen: Durch Denken ist die Fesselung an das Gedachte, an die dharmas, erfolgt; das ist der Grund des Abfalls in unser leidvolles Dasein. Durch dasselbe Denken, aber in umgekehrter Richtung, wird das Gedachte wieder aufgelöst. Nachdem das Denken uns in Banden geschlagen hat, werden diese mit seinen eigenen Waffen wieder gesprengt zum Durchbruch in das Nichtdenken, zur Freiheit.

Nâgârjuna will das Nichtdenkbare denken und das Nichtsagbare sagen. Er weiß dies und will das Gesagte rückgängig machen. Daher bewegt er sich in sich aufhebenden Gedankengängen. Die offenbaren logischen Fehler in den Texten beruhen nur zum Teil auf Mängeln, die korrigiert werden könnten, zum anderen Teil gerade auf logischen Notwendigkeiten, die sich in der Konsequenz des Unmöglichen, nämlich des Aussprechenwollens absoluter Wahrheit, ergeben.

In Nâgârjunas Denken läßt sich eine formale Analogie einerseits zur Dialektik im zweiten Teil von Platos "Parmenides", andererseits zu moderner Logistik (Wittgenstein) finden. Diese Logistik vermöchte planmäßig die Fehler zu korrigieren, die in den indischen Texten für den Abendländer so störend sind, wie auch noch die in dem so unendlich viel weiter ausgearbeiteten Denken von Platos "Parmenides". Jene indischen Texte lassen wie durch ein trübes Medium nur augenblicksweise in voller Helligkeit durchbrechen, was hier logisch getan wird. Umgekehrt aber geht wie von Plato so von diesen Indern her an die bloß logistischen Bemühungen die Frage nach deren Sinn. Nur bei Wittgenstein glaube ich etwas davon zu spüren, was es bedeuten könnte, durch das reinste, fehlerfreie Denken das Denken selber an die Grenze zu bringen, wo es scheitert. Die Tiefe trotz des Trüben in den indischen Texten könnte in der heute möglichen Helle, die als bloße Helle eine nichtige Spielerei bleibt, Anstoß zur Selbstbesinnung werden.

.....

Der Zustand der Vollkommenheit der Erkenntnis: Er heißt Streitlosigkeit. Das Denken, das, ständig im Streit, jede Aussage vernichtet, geht gerade damit dorthin, wo jeder Streit aufhört, wo der Streitlose wohnt. ... Alle dharmas erwirken in der Täuschung der Zeichen und, überschwemmt von Leidenschaften, die Not des Leidens. Ist diese in ihrer Leerheit begriffen, so ist sie überwunden. Nun ist der Zustand frei zugleich von Täuschung und Qual. In der vollendeten Ruhe hört die Leerheit der dharmas zwar nicht auf da zu sein, aber dies Dasein berührt nicht mehr, hat seine Schrecken verloren, sein Gift, seine Macht. In diesem Zustand ist gegenwärtig das, worauf Zeichen wie Geburt und Tod und Zeit nicht mehr zutreffen, ein Unerschütterliches, für das alles Kommen und Gehen wesenlos wurde.

Zitat: Alan W. Watts, Zen, Tradition und lebendiger Weg,
S.87-88,
ZERO Verlag, Rheinberg, 1981
(bzw. Windpferd Verlag, Aitrang, 1990).

Die Mahâyâna-Philosophie bringt eine drastische, jedoch wirkungsvolle Lösung zum Vorschlag, die das Thema einer Literaturgattung bildet, die Prajñâ-pâramitâ oder Weisheit zur Fahrt ans andere Ufer genannt wird, Schriften, die mit dem Werk Nâgârjunas (ca. 200 v.Chr.) in engster Verbindung stehen. Nâgârjuna zählt zusammen mit Shankara zu den größten Geistern Indiens. Die Lösung lautet, kurz gesagt, folgendermaßen:
alles Ergreifen, auch das von Nirvana ist nichtig - weil es nichts zu ergreifen gibt. Dies beinhaltet Nâgârjunas berühmte Sûnyavâda, seine Lehre von der Leere, sonst auch als Mâdhyamika, Mittlerer Weg, bekannt, denn sie widerlegt alle metaphysischen Sätze dadurch, daß sie deren Relativität nachweist. Vom Standpunkt akademischer Philosophie aus gesehen, stellen Prajñâ-pâramitâ und die Lehre Nâgârjunas zweifellos eine Form von Nihilismus oder absolutem Relativismus dar. Der Standpunkt Nâgârjunas ist dies jedoch nicht. Die Dialektik, mit der er jeden Wirklichkeitsbegriff zunichte machte, ist lediglich eine Erfindung, die dazu diente, den Zirkelschluss des Ergreifens zu durchbrechen, und am Ende seiner Philosophie steht nicht die verächtliche Verzweiflung des Nihilismus, sondern die natürliche und zwanglose Wonne (ananda) der Befreiung.

Die Sûnyavâda hat ihren Namen von dem Begriff Sûnya, Leere, oder Sûnyatâ, Leerheit, womit Nâgârjuna die Natur der Wirklichkeit oder vielmehr die Wirklichkeitsbegriffe, die sich der menschliche Geist zu bilden vermag, umschrieb. Unter Begriffe fallen hier nicht nur metaphysische Anschauungen, sondern auch Ideale, religiöse Bekenntnisse, letzte Erwartungen und jede Art Streben - alles, wonach der Geist der Menschen zu ihrer eigenen physischen oder geistigen Sicherheit sucht und greift. Die Sûnyavâda zerstört nicht nur die Glaubenswahrheiten, die man bewußt angenommen hat; sie spürt auch die verborgenen und unbewußten Voraussetzungen für Denken und Handeln auf und verfährt mit ihnen in gleicher Weise, bis eben diese Abgründe des Geistes zu völligem Verstummen kommen. Auch die Vorstellung von Sûnya muß ihrerseits geleert werden.

"Man kann es weder leer noch nichtleer nennen, oder beides oder keines von beiden; um es jedoch klar zu bezeichnen nennt man es die Leere".

Stcherbatsky hat sicher recht, wenn er meint, daß man die Sûnyavâda am besten eine Relativitätslehre nennt. Denn Nâgârjunas Methode besteht einfach darin zu beweisen, daß kein Ding Eigen-Natur (Svabhâva) oder unabhängige Wirklichkeit besitzt, denn es existiert nur in Beziehung zu anderen Dingen. Nichts in der Welt kann durch sich selbst bestehen - kein Ding, keine Tatsache, kein Wesen, kein Ereignis - und aus diesem Grunde ist es töricht, ein einzelnes als Ideal auszusondern, wonach man zu greifen hat. Denn das Ausgesonderte existiert nur in Beziehung zu seinem eigenen Gegenteil, da was ist, durch das definiert wird, was nicht ist, Freude wird durch Leid, Leben durch Tod und Bewegung durch Ruhe bestimmt. Ohne den Kontrast des Nicht-Seins kann sich der Geist offensichtlich keine Vorstellung von Sein machen, denn die Vorstellungen von Sein und Nicht-Sein sind Abstraktionen höchst einfacher Erfahrungen wie der, daß ich einen Pfennig in der rechten, keinen jedoch in der linken Hand habe.

In gewisser Hinsicht besteht zwischen Nirvana und Samsara, Bodhi (Erleuchtung) und Klesa (Verblendung) dieselbe Bedingtheit. Das heißt, die Suche nach Nirvana schließt Vorhandensein und Problem des Samsara mit ein, und das Trachten nach Erleuchtung beinhaltet, daß man sich im Zustand finsterer Verblendung befindet.

Zitat: Thich Nhat Hanh, Schlüssel zum Zen,
S.115-116, 120-121,
Herder Verlag, Freiburg, 1996.

Bekanntlich legt die Ts'ao T'ung Chan-Schule (jap. Sôtô Zen-Schule) besonderes Gewicht auf die Absichtslosigkeit. Diese Einstellung entspricht ganz dem Geist der Prajñâpâramitâ. Der Grundsatz des "Meditierens ohne Objekt" und die Auffassung: "Praxis und Erleuchtung sind ein und dasselbe" beruhen eindeutig auf dem Prinzip der Absichtslosigkeit. Hier ist wichtig zu sehen, daß die Lehre von der Absichtslosigkeit vom frühbuddhistischen Begriff der Ziellosigkeit (apranihita) abgeleitet ist. Die Schriften Digha Nikaya, Lalita Vistara, Abhidharmakosa Sastra, Vibhasa, Visuddhimagga sprechen in diesem Zusammenhang alle von den "drei Toren zur Befreiung".

Diese drei Tore zur Befreiung sind: Leerheit (sunyata), Bezeichnungslosigkeit (animitta) und Ziellosigkeit (apranihita). Leerheit bedeutet das Fehlen einer permanenten Identität der Dinge. Mit der Bezeichnungslosigkeit ist gemeint, daß man die Dinge nicht in Begriffe faßt. Ziellosigkeit ist die Einstellung eines Menschen, der keinerlei Bedürfnis hat, hinter irgendetwas herzurennen, etwas zu erkennen oder zu erlangen. Sie besteht zum Beispiel darin, nicht die Erleuchtung als Gegenstand des Wissens anzustreben. Das Sanskrit-Wort "apranihita" bedeutet "nichts vor sich hinstellen". Vibhasa, Abhidharmakosa Sastra und Visuddhimagga neigen dazu, Ziellosigkeit als Nicht-Begehren zu deuten; da die Dinge unbeständig sind, sollte man nicht hinter ihnen herrennen. Aus demselben Grund deuten sie Bezeichnungslosigkeit als Absage an falsche Wertaussagen, die die Sinnesorgane über die Dinge machen.

Die drei Tore zur Befreiung werden deshalb von der Mehrheit der frühbuddhistischen Texte mehr im moralischen als im epistemologischen Sinn gedeutet. Im Mâhâyana-Buddhismus ganz allgemein, und dann ganz besonders im Zen-Buddhismus, wird ein enger innerer Zusammenhang zwischen den drei Toren gesehen. Weil kein Ding eine absolute Identität hat (=Leerheit), kann man es nur in nichtbegrifflichem Wissen erfassen (=Bezeichnungslosigkeit), wobei jedoch kein Subjekt auf der Suche nach einem Objekt sein kann (=Ziellosigkeit). Im wahren Wissen um die Wirklichkeit gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen Subjekt und Objekt, Erlangendem und Erlangtem.

.....

Gemäß den Prinzipien der "drei Tore zur Befreiung" hat die Negation (Nâgârjunas) also die Aufgabe, so lange alle Begriffe zu zertrümmern, bis der Übende an den Punkt kommt, wo er sich vollständig von aller Unterscheidung löst und in die ununterschiedene Wirklichkeit eindringt. Die Dialektik zielt darauf ab, im Betreffenden eine Krise auszulösen, die ihn völlig umkrempelt, und nicht, eine Wahrheit herauszumeißeln. Sowohl im Zen als auch im Denken der Prajñâpâramitâ und der Madhyamika dient die Sprache diesem Ziel, was zeigt, wie eng diese Richtungen miteinander verwandt sind.
Die Zen-Meister verwenden die Dialektik nicht auf genau dieselbe Weise wie Nâgârjuna, aber ihre Worte, Taten und Blicke zielen ebenfalls darauf ab, alle Begriffe zu bekämpfen, Krisen herbeizuführen und Bedingungen zu schaffen, die den Übenden bis zu dem Punkt führen, wo sich ihm die klare Schau der Wirklichkeit eröffnet. Würden wir unsere Tage in einem Zen-Kloster damit verbringen, die Texte der Prajñâpâramitâ und der Madhyamika zu studieren, bliebe uns nicht genügend Zeit für die Praxis des Zen. Aber diese Texte stehen auch im Kloster zur Verfügung, und man kann sie jederzeit zu Rate ziehen.
 

 

Zurück / Startseite Bild: W3C-HTML4.01 validiert Bild: W3C-CSS validiert