Koans und Kinderfragen

von  Judith Stronach



JUDITH STRONACH  lebt und schreibt in Berkeley, Kalifornien. Sie arbeitet mit bei der Zeitschrift 'Inquiring Mind' der 'Vipassana Community', unter anderem als Guest Poetry Editor.


©opyright Essay von J. Stronach:
        1994, J. Stronach, Inquiring Mind 2/1994, S.22-23,
        Berkeley, CA., USA.

 
©opyright Neruda Gedichte:
        1991, W. O'Daly, Copper Canyon Press, Neruda-Stiftung.

 
©opyright deutsche Übersetzung:
        1994-2005, M.B. Schiekel,
        D-83569 Vogtareuth, D-89073 Ulm.


Das hier vorgelegte kleine Essay von Judith Stronach erschien auf Englisch in der Kolumne "Poems & Not Poems" in 'Inquiring Mind 2/1994' S. 22-23, der zweimal jährlich erscheinende Zeitschrift der 'Vipassana Community':
Inquiring Mind, P.O.Box 9999, North Berkeley Station, Berkeley, CA 94709, USA; bzw. email: imind_at_dnai.com .
Europäische Interessenten können 'Inquiring Mind' auf Spendenbasis beziehen über:
Jean-Luc Moreau, Postfach CH-3123 Belp, Schweiz; bzw. email: jlmoreau_at_swissonline.ch .
 
Die Gedichte von Pablo Neruda aus "El libro de las preguntas" wurden 1991 von William O'Daly ins Amerikanische übertragen und erschienen unter dem Titel "The Book of Questions" bei:
Copper Canyon Press, P. O. Box 271, Port Townsend, WA 98368, USA; bzw. email: coppercanyon_at_olympus.net .
Der Verlag Copper Canyon Press wurde 1972 als ein Non-Profit-Unternehmen gegründet und hat sich auf die Herausgabe anspruchsvoller Lyrik spezialisiert, sowohl in Übersetzungen wie z.B. von Zen-Meister Ikkyu, Ch'an-Meister T'ao Ch'ien, Han Shan, Su Tung-p'o, den Nobelpreisträgern Pablo Neruda, Odysseas Elytis, Vicente Aleixandre, dem estländischen buddhistischen Dichter Jaan Kaplinski, als auch in Originalausgaben einiger ausgewählter und wichtiger zeitgenössischer amerikanischer Dichter wie z.B. Hayden Carruth, Lucille Clifton, Olga Broumas, Carolyn Kizer, Thomas McGrath und W.S. Merwin.
 
Die Übersetzung ins Deutsche wurde von M.B. Schiekel vorgenommen und erschien in 'InterSein 6/1995' (Zeitschrift des Freundeskreises von Thich Nhat Hanh):
GAL, Postfach 60, D-83730 Fischbachau.
 
Diese Veröffentlichung hier erfolgt mit dem freundlichen Einverständnis von 'Inquiring Mind', von 'Copper Canyon Press', der 'Neruda-Stiftung' und von 'InterSein'. Jede Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der betroffenen Rechteinhaber.

 

 

 

Koans und Kinderfragen

von

Judith Stronach


Ein Kind fragt, "Warum ist der Himmel blau?", und ich merke, daß ich keine Idee habe. In dem Raum der Erfahrung "keine Idee" öffnen sich Wunder:
Himmel, Blau, Blauer Himmel, Horizont, was liegt auf dieser Seite davon, was auf jener. Koans werden ersonnen, um uns von unserem gewöhnlichen Geist zu diesem "Weiß-Nicht-Geist" ("Don't-Know Mind") zu bringen und zu der Freude, ein Mysterium zu sein innerhalb eines Mysteriums.
 
Westliche Praktizierende des Buddhismus wenden sich üblicherweise auf der Suche nach ihren Koans asiatischen Quellen zu. Aber auch Kulturen näher an unserer Heimat können helfen, uns vom Anhaften an dem Bekannten zu befreien. Eine solche Quelle der Inspiration ist "Das Buch der Fragen" ("El libro de las preguntas"), welches der chilenische Dichter Pablo Neruda wenige Monate vor seinem Tod fertigstellte (Übersetzung ins Amerikanische durch William O'Daly, The Book of Questions, 1991, Copper Canyon Press).
 
Das Buch enthält 74 kurze Gedichte, aufgebaut aus Zweizeilern, welche 316 verwirrende Fragen aufwerfen. Wie Koans befreien sie uns von der Verführung erdachter Lösungen. Unser rationaler Geist vermag die Oberfläche dieser Fragen nicht zu durchdringen, aber wenn wir uns den Bildern überlassen, können wir hinab kommen zu einem unsichtbaren Platz.
 
Zitronen und Granatäpfel, Tauben und Kondore verweisen auf etwas jenseits ihrer selbst, und Neruda schaut auf sie mit einem Herz-Geist, ausgeglichen in der höchsten Gleichzeitigkeit von Form und Leerheit. Aus dieser Balance destilliert er seine Bildkraft in Fragen, die uns einladen, nicht nur die Unendlichkeit in einem Sandkorn zu sehen, sondern auch das Sandkorn in der Unendlichkeit.
 


XXXV

Wird unser Leben nicht ein Tunnel sein
zwischen zwei vagen Klarheiten?

Oder wird es nicht eine Klarheit sein
zwischen zwei dunklen Dreiecken?

Oder wird Leben nicht ein Fisch sein
vorbereitet darauf ein Vogel zu sein?

Wird Tod bestehen aus Nicht-Sein
oder aus gefährlichen Dingen?

XXXVI

Am Ende, wird nicht der Tod
eine endlose Küche sein?

Was werden deine auseinander gefallenen Knochen tun,
nochmals nach deiner Form suchen?

Wird deine Auflösung verschmelzen
mit einer anderen Stimme und anderem Licht?

Werden deine Würmer Teil werden
von Hunden oder von Schmetterlingen?

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Das Folgende sind vermischte Verse aus einer Vielzahl von Gedichten:  

*

Sag mir, ist die Rose nackt
oder ist dies ihr einziges Kleid?

*

Warum verbergen Bäume
die Großartigkeit ihrer Wurzeln?

*

Wieviele Bienen gibt es wohl
an einem Tag?

*

Ist Friede der Friede einer Taube?
Führt der Leopard Krieg?

*

Ist die Sonne die Gleiche wie die Gestrige
oder ist dieses Feuer verschieden von jenem Feuer?

*

Wie teilen die Orangen
das Sonnenlicht auf im Orangenbaum?

*

Wo ist die Mitte des Ozeans?
Warum gehen die Wellen nie dorthin?

*

Wieviele Wochen sind in einem Tag
und wieviele Jahre in einem Monat?

*

Wen kann ich fragen, was zu vollbringen
ich in diese Welt kam?

*

Warum bewege ich mich, ohne es zu wollen
warum bin ich nicht fähig still zu sitzen?

*

Wie lange besteht ein Nashorn
nachdem es von Mitgefühl berührt wurde?

*

Was hat der Baum von der Erde gelernt
so daß er mit dem Himmel reden kann?

*

Wer war sie, die dich geliebt hat
in deinem Traum, als du schliefst?

*

Und der Vater, der in deinen Träumen lebt
stirbt er wieder, wenn du erwachst?

*

Und welches ist der Name des Monats
der zwischen Dezember und Januar fällt?

*

Woran hängt der Kolibri
seine strahlende Symmetrie?

*

Warum fragen mich die Wellen
die gleichen Fragen, die ich sie frage?

*

Wer kann das Meer überzeugen
vernünftig zu sein?

*

Wer befahl mir niederzureißen
die Tore meines eigenen Stolzes?

*

Lernen wir Freundlichkeit
oder die Maske der Freundlichkeit?

*

Wann liest der Schmetterling
was dahinfliegt, geschrieben auf seine Flügel?

*

Wenn alle Flüsse süß sind
woher hat der Ozean sein Salz?



Viele von Nerudas Fragen sind so zum Verrücktwerden unbeantwortbar wie die Fragen eines Kindes: "Wohin zieht sich der Schatten zurück?" "Und warum sollten Blätter grün sein?"
 
Warum sind die Fragen eines Kindes so zum verrückt-werden? Ich glaube, weil sie uns enthüllen, daß wir nicht wissen und wir gerne vorgeben, wir wüßten. Die Frage eines Kindes erinnert uns an die Zeit, als wir auf die Welt mit Staunen geblickt haben, und das Staunen bildete sich aus der Unlösbarkeit unserer Fragen. Neruda sagt:
 
           "Was wir wissen ist so wenig,
            und was wir an-nehmen so viel."
 
Nachdem ich Neruda´s Fragen gelesen hatte, schien es mir, daß Kinder eine weitere Quelle von Koans aus unserer eigenen Kultur sein könnten. So befragte ich Iris, die fünfjährige Tochter eines Freundes. Es war ein merkwürdiges Interview, da die Antworten die ich suchte, Fragen waren. Hier sind ein einige:
 

Wie kommen da die Samen her?

Wie kommt da der Schmutz her?

Warum fallen Blätter?

Warum wird es kalt?

Wie wird Glas brüchig?

Warum beißen Würmer in Äpfel?

Warum kommen Wellen aus dem Ozean?

Warum haben sie keinen Weg gefunden,
Menschen mit AIDS zu helfen?

Warum ist Großvater gestorben?

Wie wird Sonnenlicht gemacht?

Wie wird Dunkelheit gemacht?

Wie kommen Tränen, wenn du traurig bist?


Bei einem anderen Besuch saß ich bei diesem Kind während der schwierigen Zeit des Einschlafens. Fragen über die Welt und Gott hatten sie an diesem Abend aufgewühlt. Jede neue Frage bot weniger und weniger Befriedigung. Ihre Angst erreichte einen Gipfel und sie faltete ihre Arme über ihrer Brust, um in Schweigen nachzudenken. Dann sagte sie, "Wer hat die Welt gemacht? Wie ist da die erste Person hergekommen? Das ist eine wirklich schwere Frage. Aber nicht die schwerste."
 
Mehr Schweigen. "Jetzt hab ich's! Wie ist da das allererste Ding hergekommen? Schau, jetzt hab ich die Frage." Und prompt schlief sie ein, nicht mit der endgültigen Antwort, aber mit dem endgültigen Rätsel. Ihre Frage brachte sie einen Schritt näher an jenen wahren Grund des Seins, wo keine Antworten möglich sind, und der Geist muß sein 'unfähig-zu-wissen' akzeptieren. Der Geist, der dieses Nicht-Wissen annimmt, ist in Frieden.
 

 

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